"Der Tag, als ich nicht ich mehr war"
Theaterstürck von Roland Schimmelpfennig
Regie: Anne Lenk; Bühne Judith Oswald
Mit Camill Jammal, Elias Arens, Franziska Machens, Maike Knirsch, Tabitha Frehner und Jeremy Mockridge
weitere Informationen und Spieltermine auf der Website des Theaters
Magische Bilder im Geiste Kleists
Warum nicht mal heimliche Gelüste an einen Doppelgänger delegieren? Am nächsten Morgen sitzen die dann allerdings mit am Frühstückstisch - so gesehen in Roland Schimmelpfennigs neuem Stück "Der Tag, als ich nicht ich mehr war", in Berlin fantasievoll auf die Bühne gebracht.
Dem Jahreswechsel folgt auf deutschen Bühnen immer gleich der Endspurt – nur noch zweieinhalb Wochen bleiben bis, die Jury des "Theatertreffens" in Berlin verkündet, welche Stücke sie nach Berlin lädt. Viele mühen sich noch dabei zu sein – und das erhöht die Premieren-Dichte. Auch prominente, erfolgreiche Autoren und Autorinnen werden noch gut platziert ins Rennen geschickt.
Roland Schimmelpfennig ist Deutschlands meistgespielter Dramatiker, auch, weil er so produktiv schreibt. "Der Tag, als ich nicht ich mehr war" ist sogar eine Auftragsarbeit gewesen fürs Deutsche Theater – und Schimmelpfennig beweist einmal mehr, dass er überraschen kann. Voraussehbar ist bei ihm (fast) nichts, bestenfalls das Unvorhersehbare.
Selbstbegegnung am Feierabend
"Der Tag, als ich nicht ich mehr war" ist nichts mehr und weniger als ein kleines Spiel im Geist von Kleist. Wie sich nämlich in dessen "Amphitryon"-Komödie die Männer in Verdoppelung begegnen (weil nämlich allerhöchste Götter sich in ihr Ich verwandeln und so jede Selbstgewissheit zerstören), so lässt nun Schimmelpfennig einen braven Bürgerbiedermann bei der Heimkehr vom Büro sich selber verdoppelt begegnen: Er kommt nach Hause, sitzt aber auch schon mit Kindern und Familie am Abendbrottisch.
Später erscheint auch der Gattin ein Double – und außer wortreichem, fein gedrechseltem Erstaunen darüber, dass das Unmögliche plötzlich möglich ist, wächst sich die fantastische Fingerübung aus zur sozialpsychologischen Versuchsanordnung. Denn "das andere Ich" ist jeweils beseelt von mancherlei Gedanken, Empfindungen und Obsessionen, die das ehedem einzige eigene Ich sich wohl nicht zugestehen mochte: Der Mann mutiert im Spiel- und Spiegelbild zum munteren Hallodri, die Frau gar zur Erotik-Chanteuse im Nachtclub. Genauer: in der "Schwertfischbar" – und die hielt Herr Biedermann bislang fälschlich für ein Fisch-Restaurant.
Der Doppelgänger als nackte Tatsache
Dort wird nächtens kräftig über die Stränge geschlagen. Doch nach allerlei Abenteuern – inklusive Polizei-Einsatz – sitzt das Ur-Paar morgens wieder beim Frühstück, und alles scheint wie immer. War alles nur geträumt? Da aber setzen sich die "alter ego"-Visionen einfach dazu, jetzt im Wortsinn als nackte Tatsache und mit den Fingern im Marmeladenglas. Mit ihnen, mit der eigenen Abweichung also, werden Otto und Emma Normalbürger wohl von nun an irgendwie auskommen müssen.
Gerade 70 Minuten dauert diese Miniatur. Doch der Text ist bis in die letzte feine Verästelung ausgefeilt. Das lässt erahnen – wie auch der rhythmisch klug geschraubte Titel –, wie nahe Schimmelpfennig dem Vorbild Kleist kommen wollte.
Szenische Fantasie
Regisseurin Anne Lenk ist früher schon am Deutschen Theater sehr angenehm aufgefallen – etwa mit Joseph Roths "Hiob". Hier nun folgt sie den Feinheiten im Text mit viel szenischer Fantasie: Die ganze Eröffnung ist ein Zaubermärchen, mit wolligem Troll und riesigem Kleiderknopf, einem Straußenvogel und anderen magischen Bildern auf dieser "Bühne in der Bühne". Bildnerin Judith Oswald hat hier eine Art Kasperltheater errichtet: Wer von den Stufen davor dort oben hinein tritt, ist mit Sicherheit verwandelt, irgendwie. Das andere Männer-Ich etwa erscheint dann, wenn das eine, erste Ich ein Blatt Papier vom Boden hebt, das gerade vom Himmel fiel – Zaubertricks allüberall.
Und Erstaunen immerzu – auch darüber, wie der Autor Schimmelpfenning die eigenen Arbeiten immer wieder irgendwie am Nullpunkt beginnen lassen kann. So bleibt er "wie neu", auch nach so unerhört vielen Texten fürs Theater. Dessen Phänomene verwandelt er in Grübel- und Zauber-Spiele: für (wie jetzt in Berlin) animierte Ensembles. Und für uns, das staunende Publikum.