Rollenspiel im Geschichtsunterricht

Auf Klassenfahrt in die DDR

Plakate vom Gruß der Jung- und Thälmannpioniere der ehemaligen DDR sind im Leipziger Schulmuseum ausgestellt, aufgenommen am 26.06.2014 in Leipzig (Sachsen).
Jung- und Thälmannpioniere der ehemaligen DDR grüßen - auf einem Plakat, das im Schulmuseum Leipzig ausgestellt wurde. © dpa / Peter Endig
Von Henry Bernhard |
Schüler aus Frankfurt am Main sind auf ihrer Klassenfahrt in die Vergangenheit gereist: in die DDR des Jahres 1988. Kann das Nachstellen von Geschichte für mehr Verständnis bei denen sorgen, die den damaligen Staat nie kennengelernt haben?
"Jetzt stehen sie richtig! Wunderbar! Guten Morgen!", sagt David Hannak. "Sie befinden sich an der Grenzübergangsstelle Worbis, kurz GÜST, zur Einreise in die Deutsche Demokratische Republik von der BRD aus." – Keine historischer Aufnahme, sondern eine vom Juni 2018. 20 Schüler eines hessischen Gymnasiums reisen nach Thüringen. Ihr Projekt heißt "Zeitreise – Klassenfahrt in die DDR". Passend dazu steht ein vermeintlicher DDR-Stasi-Offizier im Bus und kontrolliert die Personalausweise.
"Haben sie Verwandte in der Deutschen Demokratischen Republik?", fragt David Hannak. – "Nein." – "Keine Verwandten. Dann hätte ich als nächstes: Faulmann, Elisa." – Elisa hat ihr Visum vergessen. Spätestens hier haftet dem Stück etwas Operettenhaftes an: Der Schauspieler hält die nötige Strenge nicht durch, die Kaltschnäuzigkeit und Kompromisslosigkeit eines Stasi-Offiziers.

"Es gibt Zweifel an dieser Methode"

Die Geschichtslehrer Klaus-Jürgen Wetz und Benedikt Kruse machen mit den 20 Schülern seit anderthalb Jahren eine DDR-AG. Zwei Mal im Monat haben sie sich getroffen und die Geschichte des "anderen Deutschlands" erforscht. Nun, zum Abschluss, die Studienfahrt "in die DDR" – nach Thüringen und Sachsen. "Das ist die Methode Reenactment", sagt Wetz. "Wir haben dafür nicht nur Zustimmung bekommen, durchaus auch Kritik. Es gibt Zweifel an dieser Methode." Zweifel, die die Schüler nicht so haben, denn sie kennen das Original nicht.

Am nächsten Morgen: "Weimar wird 899 erstmals urkundlich erwähnt. Da heißt die Stadt noch Wimari", erzählt Svea Geske. Die Stadtführerin führt die Schüler routiniert durch Weimar. Jahreszahlen, große Namen … Und doch ist es nicht so ganz das, was sich die Frankfurter erhofft hatten: Im Plan stand eine Art DDR-Stadtführung.
Besser klappt die Zeitreise abends in der Jugendherberge. Hier waren in den 80er-Jahren ständig Schülergruppen aus dem Westen, ein fester Programmpunkt war das Gespräch mit linientreuen Genossen und Schülern.
Schülerinnen in dem Klassenzimmer des Schulmuseums in Leipzig
Während des nachgestellten DDR-Unterrichts im Schulmuseum in Leipzig© Henry Bernhard
Davon gibt es einen Film aus den frühen 80er-Jahren. "Dass die Häuser nicht als schöne Objekte gesehen werden, an denen man sich erfreuen kann, sondern nur wie ein Pferch, in den man sich reinhockt, schläft, isst und zur Arbeit geht." – Ein West-Jugendlicher vergleicht die einheitsgrauen, tristen Ost-Häuser mit "Pferchen". Und der Funktionär kommt ins Schwimmen: "Also, da muss ich Dir meine persönliche Meinung sagen: Ich möchte nicht in einem Pferch leben, ich lebe auch nicht in einem Pferch. Ich lebe in einem Haus, das auch alt ist." Der DDR-Funktionär bricht die Veranstaltung ab, verbietet die Kamera. Dabei haben die Schüler nur beschrieben, was sie gesehen haben.

Pioniere im Klassenzimmer

Am Nachmittag besuchen die Frankfurter Schüler das Schulmuseum in Leipzig. Eine junge Lehrerin, Juliane Urban, simuliert eine DDR-Schulstunde: "Jetzt brauchen wir noch einen Ordnungsdienst. Der Ordnungsdienst hat eine wichtige Aufgabe zu Beginn der Stunde. Der muss nämlich die Meldung vornehmen."
Aus den 18-Jährigen, die lange nach 1989 und noch dazu im Westen geboren wurden, werden Drittklässler 1988 in der DDR. Sie tragen das blaue Halstuch der DDR-Pionierorganisation und heißen Klaus, Anke und Mandy. Aus Juliane Urban wird eine gestrenge, linientreue Genossin: "Für Frieden und Sozialismus: Seid bereit!" – "Immer bereit!" – Die Schüler setzen sich. Einer, Gunther, trägt kein blaues Halstusch: "Der Gunther trägt wieder eine Extra-Einladung oder was!? Guten Morgen, Gunther!"
Die ganze Stunde lang wird die Lehrerin Gunther immer wieder vorführen, als Abweichler. Die anpassungsfreudige Daniela lobt sie dagegen. Eine West-Zeitschrift unter der Bank konfisziert sie. Es ist ein Spiel. Doch die Frankfurter Schüler lernen eine Menge dabei, wie sie im Gespräch danach berichten.

"Erstaunlich, wie sehr ich mich da reinfühlen konnte"

"Also, ich habe mich natürlich ganz wohl gefühlt als Daniela und wollte auch meinen tollen Ruf nicht kaputt machen, weil: Ich wurde so schön gelobt."
"Ich weiß nicht, man konnte auch nicht wirklich widersprechen, wurde da gleich runtergemacht. Und auch die Situation, wo eben Gunther, der Klassenbeste, nicht die Fahne tragen durfte, weil er kein Pionier ist."
"Ich wurde eben nicht drangenommen, aber habe auch gehofft, dass andere Schüler aus der Klasse fragen: Ja, warum wird der nicht drangenommen? Der ist der Beste aus der Klasse. Dann habe ich es auch gelassen am Ende."
"Und ich finde es gerade richtig erstaunlich, wie sehr ich mich da reinfühlen konnte. Also, ich kann das jetzt viel besser nachempfinden, wie das ist, wenn man da drin sitzt und in dem System ist."
Eine einzige Schülerin aus Frankfurt hat rebelliert, hat, vor die Wahl gestellt zwischen Kreuzkette oder blauem Halstuch, sich für das Kreuz entschieden. Das, erzählt Juliane Urban, komme selbst im Spiel nur alle paar Jahre einmal vor.
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