Heimweh in der Lebenskrise
Die Hauptfigur von "Kirchberg" kann nach einem Schlaganfall kaum noch sprechen und kehrt in ihr schwäbisches Heimatdorf zurück. Ihr neuer Roman handele von Heimweh und der Herkunft als kreative Quelle, sagt die Schriftstellerin Verena Boos.
Meyer: Eine Frau von 40 Jahren kehrt zurück in das Haus ihrer Kindheit, es ist das Haus ihrer Großeltern. Es steht leer, die Großeltern sind schon vor einiger Zeit gestorben, ihre Mutter lebt in einem anderen Land. Aber diese Hanna kehrt zurück in das leere Haus in einem kleinen Dorf in Schwaben, um, ja, was dort zu tun?
Die Autorin Verena Boos erzählt von dieser Rückkehr in ihrem zweiten Roman, "Kirchberg" heißt der Roman. Ihr erster Roman "Blutorangen" ist sehr gerühmt worden, und Verena Boos ist heute zu Gast hier in der "Lesart". Frau Boos, Ihre Figur, die Hanna, kehrt ja nicht einfach so zurück, sie kommt mit einem schweren Handikap zurück in dieses Dorf. Sie kann nach einem Schlaganfall kaum noch sprechen, sie kann nur schwer laufen, eine Hand nicht mehr richtig bewegen. Was verspricht sie sich von dieser Rückkehr in das leere Haus?
Boos: Ja, sie ist also versehrt, in diesem Zeitalter des Gesundheitszwangs. Und sie kehrt zurück eigentlich mit der Idee, sich selbst zu isolieren. Das ist so eine Verfassung am Anfang, dass sie der Welt, die sie ja scheinbar nicht mehr braucht, den Rücken kehren möchte. Und dieser Rückzug in die Isolation schlägt dann im Laufe der Zeit eigentlich ins Gegenteil um, dass sie nämlich heimkehrt, trotz ihrer Sprachlosigkeit, auch in die Sprache ihrer Kindheit, auch in die Musik. Sie findet dort Gesellschaft, Traditionen und Altgelerntes, das ist für solche Aphasiepatienten – das ist ja das, woran Hanna durch ihren Schlaganfall erkrankt ist –, …
Meyer: Das ist die Sprachlosigkeit, nicht mehr sprechen zu können.
"Rückkehr in diese ritualisierte Kommunikation des Dorfes"
Boos: Das ist diese Sprachlosigkeit, genau, der Verlust der Sprechfähigkeit. Da ist so Altgelerntes und Vertrautes dann doch sehr hilfreich, sich im Leben und im Alltag noch zurechtzufinden. Und sie hat natürlich dann auch in diesem Dorf und eben auf diesem erwähnten Kirchberg so eine Überschaubarkeit der menschlichen Kontakte.
Also sie muss sich nicht jeden Tag aufs Neue erklären, sie findet den Draht zu alten Freunden wieder, es ist auch so eine Rückkehr in diese ritualisierte Kommunikation des Dorfes, da sind die Schwaben ja auch ganz klasse drin. Und sie findet dann eigentlich Geborgenheit und Freundschaft auch in diesem kleinen Dorf, in dem sie groß geworden ist.
Meyer: Und steht dahinter die These oder die Erfahrung, wenn man so eingeschränkt ist wie diese Hanna, wenn man so auf Hilfe angewiesen ist wie sie nach ihrem Schlaganfall, dann würde man in einer größeren Stadt untergehen? Sie lebt vorher in Berlin, dann ist so ein Dorf mit seinen engen Sozialstrukturen so was wie die Rettung?
"Es bietet diese Überschaubarkeit und die Solidarität"
Boos: In diesem Fall, so wie ich es beschreibe, schon. Ich beschreibe es ja jetzt nicht sentimental oder verklärend, sondern schon auch abgründig und mit einer gewissen Ironie. Aber so wie Hanna das erlebt, ist es eben leichter, dort zurechtzukommen, als in Berlin. Sie war auch vorher schon in anderen, noch größeren Städten, New York, London, wo sie auch sehr gerne, aber eben auch sehr vereinzelt gelebt hat. Und das Dorf bietet einem natürlich immer beides. Es bietet diese Überschaubarkeit und die Solidarität, es bietet natürlich andererseits auch die Kontrolle, das ist ganz klar.
Meyer: Man muss auch festhalten, sie wäre nicht zurückgekehrt, sie war eigentlich auf dem Absprung nach Harvard, sie ist Wissenschaftlerin, hat da ein Stipendium bekommen, also eigentlich auf dem Weg nach oben in ihrer Disziplin. Wenn sie diese Einschränkung nicht hätte, nach dem Schlaganfall, wäre sie nie im Leben in das Dorf zurückgekehrt, oder?
Boos: Richtig, genau. Es ist ja auch immer dieses Spiel zwischen der Anziehung dieser alten, klebrigen Beziehungen und der Herkunft, und den Fliehkräften, die so ein kleiner Ort ja dann auch hat. Und hätte sie diesen Schicksalsschlag nicht erlebt, wäre sie ganz woanders dann in diesem Moment!
Meyer: Sie haben das nicht als Idylle beschrieben oder Sie wollten das nicht tun. Was haben Sie denn als antiidyllisches Element eingebaut aus Ihrer Sicht?
"Auch aus guten Gründen geflüchtet"
Boos: Es gibt ja eben die Dinge in diesem Dorf, vor denen Hanna auch aus guten Gründen geflüchtet ist. Sie ist ja als uneheliches Kind bei ihren Großeltern aufgewachsen und hatte zwar in ihrem Haus ihrer Großeltern eine glückliche Kindheit, aber sie ist ein Kind der 70er-Jahre. Das ist ja auch ein gewisses Sittengemälde einer Generation in der Bundesrepublik, die auf dem Land aufgewachsen ist, wo das eben nicht selbstverständlich war und auch nicht als selbstverständlich angenommen wurde, dass man ein uneheliches Kind ist.
Und sie friert in diesem Haus, es ist zunächst mal ungemütlich. Sie hat auch diese zum Teil eher spießigen Nachbarn. Es gibt Leute, die sich beklagen, weil die Mittagsruhe nicht eingehalten wird. Es gibt den sehr alten Nachbarn, den Ludwig, der ja auch für so eine Generation von Menschen steht, die einfach mit Brutalität und Gewalt und als Stinkstiefel, salopp gesagt, durchs Leben kommen. Es gibt schon auch alle Charaktere in diesem Dorf.
Meyer: Das ist so ein alter Bauer, der eher mit Hass auf Mitmenschen, gerade auf andere Mitmenschen in ihrer Andersartigkeit in seinem Dorf reagiert. Ihr Roman ist ja auch interessant vor dem Hintergrund einer Diskussion, die wir gerade recht lebhaft haben: Heimat! Was ist Heimat für uns? Ist Heimat der Ort, von dem wir kommen, in den wir hineingeboren wurden? Ist Heimat der Ort, den wir uns im Laufe des Lebens schaffen, erobern?
Jetzt Ihre Hauptfigur, Sie haben es auch gesagt, Hanna hat in Berlin gelebt, in New York, in Rom, in London, war in einen schottischen Musiker verliebt, den sie da in London kennengelernt hat. Ist ihre Heimat aber trotzdem dieses kleine Dorf geblieben, in dem sie groß geworden ist?
"Keinen anderen Ort ihres Lebens zur Heimat gemacht"
Boos: Verborgen, glaube ich, schon. Und ich denke, dass sie sich eben in dieser Lebenskrise darauf besinnt, auf ganz instinktive Art und Weise. Das ist ja nicht wirklich so eine rationale Überlegung, sondern sie kehrt dahin zurück aus einem Impuls heraus und wird sich im Laufe der Geschichte schon klar, dass sie sich zumindest keinen anderen Ort ihres Lebens zur Heimat gemacht hat.
Italien vielleicht noch, sie hat ja eine ganz intensive Beziehung zu Italien, das ihr Studiensubjekt war, und sie hat diese Freundschaft zu dem Patrizio, auf den wir sicherlich noch zu sprechen kommen.
Meyer: Das können wir gleich machen, denn das ist ja eine interessante Gegenfigur. Denn Patrizio gehört zu einer Familie italienischer Einwanderer, die sind dorthin gekommen, in dieses Dorf, die führen so den klassischen Italiener am Ort, also ein kleines Lokal, Pizzeria und so weiter. Mit dem zeigen Sie eigentlich, dass man, auch wenn man von woanders herkommt, sich so ein schwäbisches Dorf zur Heimat machen kann, oder?
Boos: Genau. Patrizio ist eben der Sohn dieser Gastarbeiter, und italienische Gastarbeiter waren ja in Baden-Württemberg eine ganz wichtige, große Gruppe. Und er findet im Laufe der Zeit … Also ich schildere in diesem Roman ja einerseits eben ein Jahr im Leben von Hanna, als sie schon diesen Schlaganfall erlitten hatte, und andererseits ja in einem großen Erzählbogen einen Zeitraum von 60 Jahren etwa, 50.
Und im Laufe dieser Jahre, also von der Kindheit dort bis dann ins Erwachsenenalter, als Patrizio auch dieses Dorf als Heimat für sich selbst wiederentdeckt und auch aufwertet und dann irgendwie eine ganz gute Balance findet zwischen seiner Italianità und seinem Leben in Städten wie Mailand und Stuttgart und eben dann auch diesem Dorf, in dem er groß geworden ist, das er sich dann doch auch zu bewahren vermag als Heimat, Herkunft zumindest.
Meyer: Im Zusammenhang mit Patrizio ist einmal auch von den sogenannten Schwabenkindern die Rede, was ich sehr interessant fand. Was sind denn Schwabenkinder?
"Schwabenkinder waren Kinder von armen Bergbauern"
Boos: Schwabenkinder waren Kinder von armen Bergbauern, die aus dem Vorarlbergischen in der Schweiz und in Südtirol kamen. Und die sind als Saisonarbeiter nach Schwaben geschickt worden. Da gab es so richtige Kinderkolonien, die dann mit einem erwachsenen Begleiter bei Wind und Wetter über die Alpen gezogen sind und dann auf den Kindermärkten vor allem in Ravensburg, Oberschwaben, im Bodenseeraum an Bauern der Gegend verkauft wurden als Saisonarbeiter.
Das ist eigentlich ein riesiges soziales Problem, das ist weit verbreitete Kinderarbeit gewesen. Es gab keine Schulpflicht, die haben als Knechte und Mägde …
Meyer: Von welcher Zeit sprechen Sie da?
Boos: … gearbeitet. Das ging meines Wissens im 17. Jahrhundert los und das ging bis ins frühe 20., also 1915 gab es glaube ich den letzten Kindermarkt in Ravensburg.
Meyer: Kindermarkt klingt ja tatsächlich nach Sklavenmarkt. Sie selbst kommen aus der Kleinstadt Rottweil in Baden-Württemberg, Frau Boos, Sie haben dann in Frankfurt am Main gelebt, waren für lange Zeit im Ausland, in Italien, in Großbritannien, in Spanien. Jetzt leben Sie aber wieder in der Stadt, in der Sie groß geworden sind, in Rottweil.
Boos: Richtig.
Meyer: Welche Rolle hat das denn gespielt für dieses Schreiben eines Romans über die Rückkehr einer Frau an ihren Herkunftsort?
"Große Lust, wieder in den Süden zu ziehen"
Boos: Ja … Es ist ein bisschen so "fact follows fiction". Also ich war mit dem Roman schon zugange, als ich für mich persönlich die Entscheidung getroffen habe, wieder in meine Herkunftsstadt zurückzuziehen. Und ich habe auch die Handlung in dieser Region verortet, also für die Leute, die von daher stammen, die können das an so gewissen geografischen Markern ganz gut erkennen, und auch an den sprachlichen Markern natürlich. Und für mich hatte das was mit einer Art von Heimweh zu tun.
Ich hatte auch wirklich große Lust, wieder in den Süden zu ziehen und in diese Landschaft und auch in diese verlässlichen Beziehungen zurückzukehren, die ich dort habe. Und während des Schreibens der "Blutorangen" habe ich auch für mich entdeckt, dass diese ländliche Kindheit, die ich dort erlebt habe, auch eine kreative Quelle ist. Und das habe ich dann mit "Kirchberg" eben zum zentralen Thema des Romans gemacht.
Meyer: Auch so eine Sprache ist eine Quelle, oder? Das ist ja für Ihren Roman, Sie haben es schon angesprochen, auch wichtig, dass Sie aus dieser Sprache der Region schöpfen.
Boos: Ja, richtig. Also es gibt so einige Schwabizismen in "Kirchberg", ohne das jetzt irgendwie folkloristisch auf die Spitze zu treiben, aber es ist natürlich auch ein Sprachklang und eine Syntax und ein gewisses Vokabular, was zum einen doch irgendwie ein bisschen semantisch noch was anderes ausdrücken kann, als wenn man das jetzt einfach auf Hochdeutsch oder mit einem schriftdeutschen Begriff ausdrücken würde. Und das bringt natürlich auch so eine gewisse Mentalität der Leute in dieser Region zum Ausdruck.
Meyer: Und Musik? Weil Sie vorhin sagten "Rückkehr in die Musik", das wollte ich vorhin schon anmerken, das ist jetzt nicht die Rückkehr in die schwäbische Volksmusik oder so was, …
Boos: Nee, nee, gar nicht!
Meyer: … sondern in die Schlager und die italienische Popmusik, die wiederum der Patrizio da miteinbringt vor allem.
"Es gibt wahnsinnig viel Musik in diesem Roman"
Boos: Genau. Die Hanna hatte als Einzelkind, die sie ja in dem Haus ihrer Großeltern blieb, wie so eine zweite Familie bei Patrizio da in der Pizzeria und ist da eben so mit aufgewachsen. Und dort liefen immer diese Schlager der 50er-Jahre. Und mit Patrizio verbindet sie natürlich auch die Kindheit in den 80ern und 90ern und die Musik, die man da gehört hat. Sie selber entdeckt dann später für sich auch die Renaissancemusik.
Also es gibt wahnsinnig viel Musik in diesem Roman, die wir mit dem Verlag zusammen auch als Playlist zusammengestellt haben, und … Ja, kann man bei YouTube abrufen, wenn man da "Kirchberg Playlist" eingibt, müsste man fündig werden. Und für sie ist es ja eben diese Rückkehr in viel Gehörtes, auswendig Gelerntes.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Verena Boos: Kirchberg
Aufbau Verlag, Berlin 2017
366 Seiten, 22 Euro