Hören Sie hier auch unser Gespräch mit Benjamin-Biograf Lorenz Jäger von der Leipziger Buchmesse:
Der Wunsch nach kritischen Hörern
Wie soll das Radio der Zukunft aussehen? Darüber machte sich Walter Benjamin schon in den 20er- und 30er-Jahren Gedanken. Reine Unterhaltung lehnte er ab. Einen wichtigen Auftrag sah Benjamin darin, die "Konsumentenmentalität" des Publikums zu verändern, zeigen seine Rundfunktexte.
In einer Hinsicht hat sich am Rundfunk bis heute nichts verändert: Noch immer empfängt, wer Radio hört, eine Stimme im privaten Raum. Die Stimme ist, wenn man so will, ein Gast, der sich erst in dem Moment zu erkennen gibt, wenn er "eintritt". Für die Rundfunkproduktion ergeben sich daraus sehr spezifische, auf das Hören bezogene Anforderungen.
Auf die besondere Bedeutung der Stimme bezieht sich Walter Benjamin in seinem Aufsatz "Reflexionen zum Rundfunk". "Es gibt Sprecher", so Benjamin, denen man selbst dann aufmerksam zuhört, wenn sie die "Wettermeldungen" vorlesen. Während eine solche Stimme willkommen ist, würde man anderen Stimmen gern das Gastrecht verweigern. Obwohl Walter Benjamin zwischen 1927 und 1933 an rund 80 Rundfunksendungen mitgewirkt hat, existiert von ihm keine einzige Rundfunkaufnahme, sodass wir nicht wissen, welche Klangfarbe seine eigene Stimme gehabt hat.
Eigener Charakter der Rundfunkarbeiten
Im Rahmen der kritischen Walter Benjamin-Gesamtausgabe sind nun in einer zweibändigen Ausgabe Benjamins Rundfunkarbeiten erschienen. Mit dieser Ausgabe wird der eigenständige Charakter der von Benjamin für den Rundfunk geschriebenen Texte betont. Lange Zeit galten sowohl Benjamins Literaturkritiken, die er u.a. für die "Frankfurter Zeitung" und die "Literarische Welt" verfasst hat, als auch seine Rundfunkarbeiten als Tätigkeiten, die in der Benjamin-Rezeption dem reinen "Broterwerb" zugerechnet wurden. Das hatte zunächst zur Folge, dass man sie in der Forschung eher stiefmütterlich behandelte – sie galten im Unterschied zu seinen anderen Texten als weniger bedeutend. Mit der Betonung des eigenständigen Wertes dieser Texte setzt die Neuausgabe seiner Schriften nun einen anderen Akzent.
Benjamins Arbeiten für den Rundfunk sind vielfältig. Er verfasste Hörspiele wie "Radau um Kasperl" und "Was die Deutschen lasen, während ihre Klassiker schrieben", daneben schrieb er Texte für die Berliner "Jugendstunde" und Vorträge für Erwachsene. Bemerkenswert sind seine didaktisch ausgerichteten Hörmodelle, die sich von den Hörspielen in ihrer Einfachheit, in der Methode der Unterweisung und in ihrer Konzentration auf "menschliche Verhaltensweisen" unterscheiden sollten.
Nicht nur bloßes Amüsement
Benjamin hat aber den "Rundfunk" nicht nur mit Texten beliefert, sondern er stellte auch theoretische Überlegungen darüber an, wie das Medium verändert werden müsste, damit die Rundfunksendungen nicht auf dem Niveau des bloßen Amüsements verharren. Benjamin trat für die Ausbildung eines sachverständigen und zugleich kritischen Hörerpublikums ein, das in der Lage sein sollte, die Rundfunksender in die Pflicht zu nehmen. Deshalb dürfe der Rundfunk die von Benjamin festgestellte "Konsumentenmentalität" des Publikums nicht einfach bedienen, sondern er müsse sie verändern. Eine Forderung, die eine unverkennbare Nähe zu Brechts Theaterauffassung und darüber hinaus eine erstaunliche Aktualität aufweist.
Walter Benjamin. "Rundfunkarbeiten", Hrsg. von Thomas Küpper und Anja Nowak. Werke und Nachlass. Kritische Gesamtausgabe
Suhrkamp Verlag, Berlin 2017
2 Bände, 650 und 944 Seiten, 98,00 Euro