"Das Lieblingsmärchen gibt Ihre gesamte Psyche preis"
Trotz Netflix und Co. gibt es heute rund 1.000 professionelle Märchenerzähler. Angst, Liebe, Hass – in Märchen werden psychologische Konflikte verarbeitet. "Das Märchen transportiert Wahrheiten", sagt Sabine Wienker-Piepho, Professorin für Volkskunde.
Liane von Billerbeck: Das kennen Sie, oder? Das war die Musik von "Drei Haselnüsse für Aschenbrödel", zu dem Märchenfilm, der seit Jahren ja Kultstatus hat für inzwischen bestimmt drei Generationen, und in der bevorstehenden Adventszeit, in der Sie diesen Film garantiert wieder sehen können, über Märchen zu sprechen, da braucht es eigentlich keinen besonderen Grund und auch sonst nicht. Wenn Sie einen brauchen, heute wird in Meiningen der Thüringer Märchen- und Sagenpreis verliehen. Er geht diesmal an die türkische Erzählerin Nazli Cevic Azazi. Und was für viele Menschen, Kinder wie Erwachsene, alltäglich war, das Lesen, Vorlesen, Hören und Sehen von Märchen, gilt das eigentlich noch? Die Frage wollen wir uns stellen, ob Märchen eigentlich noch immer unverzichtbarer Bestandteil unseres Lebens ist. Sabine Wienker-Piepho ist Professorin für Volkskunde, Mitglied am Vorstand der Märchenstiftung Walter Kahn, die den Preis vergibt, und sie hat die Tagung auch organisiert, die heute in Meiningen stattfindet. Jetzt ist sie dort am Telefon. Schönen guten Morgen!
Sabine Wienker-Piepho: Guten Morgen!
Billerbeck: Was bitte ist denn eigentlich ein gutes Märchen?
Wienker-Piepho: Diese Frage ist ganz leicht zu beantworten. Ein gutes Märchen ist ein Märchen, das sich im Lauf der Jahrtausende durchsetzt oder durchgesetzt hat, und es ist sehr interessant, dass die Brüder Grimm, die die Märchen ja nicht geschrieben und gedichtet haben, sondern gesammelt haben – wobei eine große Rolle spielt, wo sie sie her haben und wer ihre Gewährspersonen waren –, die Brüder Grimm hatten noch ein ganz anderes Gut-Schlecht-Kriterium: sie haben nämlich gesagt, der "Froschkönig" ist eins der ältesten und der schönsten Märchen, und deshalb stellen wir es als Nummer Eins an den Anfang unserer Sammlung, die mehr als 200 Märchen umfasst.
Wir kennen meist nur die "Leitmärchen"
Von diesen 200 Märchen sind nur noch vielleicht 20 bekannt, und die nennen wir Leitmärchen – die restlichen Märchen kennt niemand –, und zu diesen Leitmärchen gehört eben der "Froschkönig" bis heute, und ich spreche jetzt auch international, das "Dornröschen", das "Rotkäppchen", das heißt in Frankreich "Le Petit Chaperon rouge", und das gibt es auf der ganzen Welt wie die anderen Leitmärchen auch und so weiter. Also was sich durchgesetzt hat und was alt ist, das war damals die romantische Kontinuitätsprämisse, wenn man so will.
Billerbeck: Interessant ist ja, dass es ausgerechnet der "Froschkönig" ist, aber offenbar küssen wir alle gerne einen Frosch, wenn am Ende ein Prinz rauskommt. Wie viel Wahres darf denn an einem Märchen sein, ohne den Zauber des Vagen und des Nichtbewiesenen zu zerstören?
Wienker-Piepho: Das ist eine sehr, sehr schwierige Frage. Mein Lehrer, der berühmte Professor Röhrich, hat seine Habilitation zu dem Problem geschrieben Märchen und Wirklichkeit. Wissen Sie, das Märchen, das transportiert Wahrheiten, die Sage hingegen ist eine andere Gattung, und die hat einen Wirklichkeitsanspruch, die will geglaubt sein, das Märchen nicht.
Billerbeck: Märchen vermitteln ja seit Menschengedenken, und Sie haben es ja auch schon gesagt, ein gutes Märchen ist, was es über Jahrtausende geschafft hat zu bleiben in der Erinnerung der Menschen, im Weitererzähltwerden. Märchen erzählen und vermitteln ja Erfahrungen, Wünsche, Träume, Bräuche, Identität. Gilt das heute auch noch?
Märchen waren immer schon global
Wienker-Piepho: Ja, vor allen Dingen ist die Identitätsfrage heute ganz, ganz wichtig. Wenn wir an die kulturelle, die es ja auch gibt, Globalisierung denken, dann sind plötzlich Identitäten wieder ganz wichtig und in einem ganz anderen Sinne. Also Clifford Geertz hat mal gesagt, je mehr die Dinge zusammenrücken, desto mehr bleiben sie getrennt, und das versuchen nun sehr viele Menschen zu beweisen, dass das Märchen, meinetwegen "Schneewittchen" aus Bad Wildungen kommt oder so irgendwas, das geht nicht, das kann man mit Märchen nicht machen. Man kann Märchen nicht lokalisieren. Sagen sehr wohl, Märchen nicht. Das liegt an ihrer internationalen Verbreitung. Wir haben das gleiche Märchen von "Rotkäppchen" auch auf Madagaskar. Das ist für unsere Studenten immer der erste Schock, wenn sie das lernen.
Billerbeck: Heute wird ja nicht nur der Märchen- und Sagenpreis verliehen, der Thüringer, in Meiningen …
Wienker-Piepho: Ja, übrigens nicht von der Walter-Kahn-Stiftung verliehen.
Billerbeck: Auweia.
Wienker-Piepho: Wir verliehen auch einen Preis. Dieser Preis wird von der Stadt Meiningen, die unterstützt wird von der Hessischen Sparkassenvereinigung, verliehen, aber die Walter-Kahn-Stiftung verleiht ihn jährlich. Hier findet das nur alle zwei Jahre statt, und wir verleihen ihn immer in Volkach.
Billerbeck: Danke für die Richtigstellung!
Wienker-Piepho: Ja, bitte!
Billerbeck: Ich hoffe, ich bin jetzt in Meiningen nicht Persona non grata, weil ich die Stadt da rausgelassen habe.
Wienker-Piepho: Nein, ganz gewiss nicht! Nein, Frau Billerbeck, machen Sie sich keine Sorgen!
In Märchen werden Ängste und Wünsche verarbeitet
Billerbeck: Sie veranstalten ja auch ein Märchensymposium, und da geht es unter anderem um Märchen und Angst. Ist Angst auch so ein universelles Märchenthema?
Wienker-Piepho: Absolut. Wie alle psychologischen Grundsituationen und anthropologischen Grunderfahrungen werden im Märchen auch Ängste verarbeitet, und man sagt nun – das ist sehr interessant –, man sagt, eigentlich ist das Märchen eine Wunscherfüllungsdichtung, während die Sage eine Angstdichtung ist, sagt man.
Billerbeck: Wie muss man denn Märchen erzählen, um Menschen zu erreichen? Gibt es da eine besondere Art oder kann man so ein Märchen auch einfach runterlesen?
Es gibt 1.000 professionelle Märchenerzähler
Wienker-Piepho: Also das ist ein ganz großes Thema gegenwärtig, denn ob Sie es glauben oder nicht, wir haben inzwischen über 1.000 professionelle Märchenerzähler und -erzählerinnen, meistens sind es Damen, und die haben sich inzwischen auch zu einem eigenen Verband zusammengeschlossen und konkurrieren sehr. Es gibt unterschiedliche Schulen: manche erzählen wörtlich, andere erzählen frei, und da gibt es auch sehr unterschiedliche Talente und Begabungen, aber das ist eine außerordentlich schwierige Frage, die auch mit der Situation zusammenhängt. Wir können in einer Schule Märchen erzählen oder in einem Altenheim, oder Sie können andere Menschen erreichen mit ganz unterschiedlichen Erzählstrategien.
Billerbeck: Dann habe ich natürlich noch die Frage zum Schluss, also mein Lieblingsmärchen von den Grimm-Brüdern ist ja "Die zwei Brüder".
Wienker-Piepho: Ach was!
Billerbeck: Das hat, glaube ich, 24 Seiten oder sowas. Das habe ich meinen Kindern immer vorgelesen, wenn die krank waren.
Wienker-Piepho: Das ist ja interessant, –
Billerbeck: – weil es so besonders lang war.
Wienker-Piepho: Ja, gut.
Was das Lieblingsmärchen über die Psyche verrät
Billerbeck: Was ist denn Ihr Lieblingsmärchen?
Wienker-Piepho: Wissen Sie, dass diese Frage nicht beantwortet wird von Fachleuten? Es gibt nämlich einen entscheidenden Aufsatz eines dänischen Kollegen, und der hat geschrieben – "Mein Lieblingsmärchen" heißt der Aufsatz –, und der hat bewiesen, dass wenn Sie das preisgeben, dann geben Sie Ihre gesamte Psyche preis!
Billerbeck: Oha!
Wienker-Piepho: Aber ich liebe sehr das "Rumpelstilzchen", das ist sehr archaisch. Das mag ich sehr gerne, und ich finde es auch streckenweise richtig komisch, aber das liegt eben auch an der Art des Erzählens. Also ich habe mich jetzt geoutet!
Billerbeck: Okay, dann haben wir uns beide geoutet! Ich danke der Volkskundlerin Sabine Wienker-Piepho als Vorstandsmitglied der Märchenstiftung Walter Kahn, haben wir über die Bedeutung von Märchen gesprochen. Herzlichen Dank und Ihnen einen schönen Tag und eine interessante Tagung!
Wienker-Piepho: Danke schön! Ich danke Ihnen! Auf Wiedersehen!
Billerbeck: Gerne, gerne!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.