Sachbuch

Die Philosophie im Fußball gesucht

Zwei Bälle mit dem Logo von Kappa liegen auf dem Rasen
Fußball ist weit mehr als bloßes Auf-den-Ball-Gekloppe. © picture alliance / dpa
Von Thorsten Jantschek |
Wir interessieren uns heutzutage weniger für das Gewinnen, sondern für den Stil, den eine Mannschaft spielt. So argumentiert der Philosoph Martin Gessmann. Und durchleuchtet der Deutschen liebsten Sport anhand populärer philosophischer Theorien.
"Sage mir, für welche Mannschaft dein Herz schlägt, und ich sage dir, wer du bist." - Dass es diese identitätsbildende Kraft des Fußballs auch in der seiner durch Kapitalismus und Medialisierung entfremdeten Gegenwartsgestalt noch gibt, ist trivial. Nicht trivial indes ist, was der in Offenbach am Main lehrende Philosoph Martin Gessmann daraus macht. In seinem Essay glaubt er, dass wir uns heutzutage weniger für das Gewinnen interessieren, sondern für den Stil, den eine Mannschaft spielt. Wir erkennen uns als soziale und politische Menschen in diesen Stilen wieder.
Das ist die Voraussetzung für die Engführung von politischer Philosophie und moderner Fußballtaktik, die im zentralen Mittelfeld von Gessmanns Überlegungen steht. Denn Gessmann geht es um den modernen Fußball und die neuzeitlichen politischen Theorien. So wie Hobbes oder Rousseau traditionelle Formen absolutistischer Herrschaft mit der Vorstellung eines Gesellschaftsvertrags überwunden haben, so hat sich der Fußball von seiner wertgesättigten "11 Freunde müsst ihr sein"-Ideologie verabschiedet. Zu den politischen Ideen der Neuzeit und Nachmoderne: Liberalismus, Republikanismus und politischer Ästhetizismus passen, so die These, taktischen Formen des modernen Fußballs.
Was Hobbes und Fußball gemeinsam haben
Drei Merkmale des Liberalismus aus der Tradition des Staatsdenkers Thomas Hobbes bringt Gessmann mit dem Fußball in Verbindung: Die Überwindung des Naturzustands durch den Gesellschaftsvertrag, die minimale Sicherung gegenüber den Bedrohungen von außen und schließlich die Übertragung der Machtfülle auf den Leviathan. Das Fußballteam wird entsprechend gedacht als ein Verband von Konkurrenten, die ihren Anspruch auf einen "Macher" mit beinahe unumschränkter Machtfülle übertragen, den Trainer. Beispiel dafür ist die Spielweise der Mannschaften, die José Mourinho trainiert hat: defensiv, ergebnisorientiert, pragmatisch, erfolgreich. Aber ästhetisch so langweilig wie das Spiel der italienischen Nationalmannschaft.
Im Zentrum des Republikanismus eines Rousseau dagegen sieht Gessmann die Idee der Emanzipation des Einzelnen und die Bildung eines allgemeinen Willens in der volonté générale. Fußballerisch bedeutet das ein radikales Abschleifen von Hierarchien und das Verinnerlichen eines Gemeinschaftsmodells, das sich vor allem im freien Spiel manifestiert: Ballbesitz als Selbstzweck, bei dem sogar der Torschuss eigentlich den Aufbau immer neuer Anspielstationen in Dreiecken und Rauten stört. Es ist das Modell Pep Guardiola, das Modell F.C. Bayern München.
Borussia Dortmund spielt wie Dynamit - und machbarer Überfallsästethik
Und dann gibt es da noch den Ästhetizismus der Postmoderne, in dem es darum geht, die Statik bürgerlicher Gesellschaften durch kreative Interventionen oder politische Avantgarden zu durchbrechen. Ahnherr ist Friedrich Nietzsche, der gesagt hat: "Ich bin kein Mensch, ich bin Dynamit." Und genau so spielt Borussia Dortmund unter Jürgen Klopp, der mit einer hochartistischen, die Grenzen des physiologisch Machbaren Überfallsästhetik die Spielanlage ins Chaos stürzt, um aus diesen Momenten Kapital zu schlagen.
Auf der einen Seite wirkt diese Engführung von politischer Theorie und modernen Fußballstilen ziemlich konstruiert und zuweilen etwas zurecht gebogen (und man fragt sich welche Spielstile wohl zeitgenössischen politisch-theoretischen Konzepten wie etwa der von Colin Crouch geprägten Postdemokratie entsprechen würden?). Auf der anderen Seite erliegt man als Leser aber gern dem gedanklichen Überschuss, den Gessmanns Vergleiche mit sich führen. Zumal, wenn sie auf einen Nutzen hinaus zu laufen scheinen: Denn wenn Fußball für viele eine identitätsstiftende Herzensangelegenheit ist, und wenn die Spielweise mit politischen Haltungen verwoben ist, dann kann – so die unausgesprochene Konsequenz dieser Überlegungen – eine mittreißende Spielweise auf das politische Selbstverständnis von vielen zurückwirken. Das allerdings wäre dann doch ein bisschen zu viel Zutrauen in die Wirksamkeit der schönsten Hautsache der Welt.

Martin Gessmann: Mit Nietzsche im Stadion - Der Fußball der Gesellschaft
Wilhelm Fink Verlag
143 Seiten, 16,90 Euro