"Jeder Mensch kann für andere ein Schutzengel sein"
Sie ist eine der bedeutendsten Lyrikerinnen und Autorinnen der deutschen Gegenwart: Ulla Hahn. Gerade ist ihr autobiografischer Roman "Wir werden erwartet" erschienen. Mit Ulrike Timm spricht sie über ihre Erlebnisse als Arbeiterkind im Rheinland, ihre enttäuschten Hoffnungen in der DKP – und wie ihr die Romanfigur Hilla Palm geholfen hat, manch schlimmes Erlebnis aufzuarbeiten und sich selbst zu erkennen.
"Ich war und bin eine leidenschaftliche Leserin", sagt Ulla Hahn über sich selbst. Wenn man allerdings die Biographie der Schriftstellerin betrachtet, ist das nicht selbstverständlich. In der Nachkriegszeit im Arbeitermilieu des katholischen Rheinlands aufgewachsen, kam sie weniger durch ihr Elternhaus als durch die Schule zum Lesen. Ihr Volksschullehrer war es, der sie ermunterte und dabei unterstützte, auf die weiterführende Schule zu gehen. "Der Lehrer in meiner Volksschule hat zu mir gesagt, als ich sitzen geblieben bin – und alle aufstanden, die auf eine weiterführende Schulen gehen sollten –, da sagte er zu mir: Steh auf!" Dieses "Steh auf!" wurde zu ihrem Leitmotiv.
Obwohl es in ihrem Elternhaus kaum Bücher gab, war das Lesen schon früh eine wichtige Rückzugsmöglichkeit: "Ich hatte als Kind immer meine Tricks: Wenn man mich von den Büchern wegholen sollte – ich sollte was in der Küche machen – das erste, was ich dann gemacht habe: Ich habe irgendwas zerbrochen. Ich habe die Tasse fallen lassen, und dann hieß es wieder: ich bin zu dumm. Ich war 'dolle Döppe' und ich musste wieder raus aus der Küche. Nichts lieber als das!"
Wenn Schreiben an die Substanz geht
Nach Realschulabschluss und Lehre zur Bürokauffrau holte die heute 72-Jährige ihr Abitur nach, studierte Germanistik, Soziologie und Geschichte in Köln und promovierte 1978. Als Literaturredakteurin bei Radio Bremen schuf sie eine neue Sendung: Das Gedicht des Tages. Parallel dazu begann sie selbst zu dichten und wurde schließlich zu einer der populärsten deutschen Lyrikerinnen der Gegenwart. 1991 erschien ihr erster Roman "Ein Mann im Haus". Viele weitere Bücher folgten. Gerade ist der vierte Teil ihres autobiografischen Werks erschienen: "Wir werden erwartet". Die Romanfigur Hilla Palm half ihr, die schlimmen Erlebnisse ihrer eigenen Kindheit und Jugend aufzuarbeiten. Das habe viel Kraft gekostet, aber auch Heilung gebracht: "Für mich ist das Schreiben nur sinnvoll, wenn es an die Substanz geht. Wenn es das nicht tut, dann kann ich auch einen Krimi schreiben oder irgendeine Schnulze. ( …) Es muss etwas sein, was für mich wertvoll und wichtig ist", sagt die Autorin, die seit vielen Jahren mit Klaus von Dohnanyi verheiratet ist, dem ehemaligen Ersten Bürgermeister der Stadt Hamburg. Er ist auch der erste Leser neuer Texte. "Auch meinen Mann habe ich kennengelernt über meine Gedichte. Er kannte nämlich meine Gedichte vor mir. Und als wir einmal zusammentrafen, war das sehr schön. Er konnte also einige Gedichte von mir fast auswendig. Und so was passiert einem nicht alle Tage. So einen Mann muss man sich merken."
2013 wurde in ihrem Elternhaus das Ulla-Hahn-Haus eröffnet, das sich der Sprach- und Leseförderung für Kinder und Jugendliche widmet. Dort will sie das zurückgeben, was sie in ihrer Kindheit selbst an Hilfe erfahren hat: "Jeder Mensch kann für andere ein Schutzengel sein."