Was bewegt Freilerner?
Es ist wie ein kleines Utopia: Das mehrtägige Festival für sogenannte Freilerner-Familien in einem Dorf in Brandenburg. Hier treffen sich Aussteiger, Freigeister, Esoteriker. Sie haben vor allem eins gemeinsam: Ihre Kinder gehen nicht zur Schule.
Es regnet in Klein Leppin in Brandenburg. Schlammpfützen haben sich gebildet. Schilder weisen den Weg zu einem Gelände. Kleinkinder werden auf den Armen getragen. Die pastellfarbenen Tücher in den Haaren der Mütter sind durchnässt. Ältere Kinder spielen auf der Straße Ball. "Schulfrei-Festival" steht in imitierter Kinderschrift auf einem Eingangsschild.
Kinder rennen kreuz und quer durch die Gegend. Die Organisatoren: fast selber noch Kinder. Zwischen 15 und 25 Jahren sind sie. Sie delegieren, organisieren, fragen, antworten. Seit drei Jahren trifft sich in der brandenburgischen Pampa eine kleine Szene von Gegnern. Gegner der Schulpflicht. Sie nennen sich No-Schooler oder Home-Schooler. Tabea Kratzenstein: "Freilernerszene wird immer ganz gerne verwendet als Begriff. Aber es ist nicht so ganz klar definiert."
Kratzenstein ist Mitorganisatorin, 23 Jahre alt und Pressebetreuerin auf dem Festival. Und auch sie hat eine No-Schooler-Biografie: "Ich war die ersten siebeneinhalb Jahre nicht in der Schule. Und danach hatte ich eine recht normale Biografie. Bin zweieinhalb Jahre auf der Mittelstufe gewesen. Und danach habe ich auf die Oberstufe gewechselt."
In Deutschland gilt die gesetzliche Schulpflicht
No-Schooler oder Freilerner gehen nicht zur Schule. Was in Ländern wie den USA, Frankreich oder England toleriert wird, gilt in Deutschland als Straftat, denn es gilt die gesetzliche Schulpflicht. Tabea Kratzenstein entschied sich nach sieben Jahren doch noch für eine klassische Schule. Aus jugendlicher Neugier:
"Ja, aber es war auch das Interesse von mir aus da. Da gehen alle Jugendlichen hin und das könnte ich ja einfach mal ausprobieren. Also so wie andere Jugendliche mal Alkohol ausprobieren, es trinken ja auch alle Leute so ein bisschen Alkohol, dann kann man ja auch mal Schule ausprobieren."
Von 350 Teilnehmern im ersten Jahr 2012 auf 1500 Gäste in diesem Jahr wuchs das Festival schnell an. Viele der Familien, die ihre Kinder nicht zur Schule schicken, haben Ärger. Ämter. Behörden. Nachbarn. Sich verstecken müssen. Auch das kennen viele Teilnehmer des Festivals. Hier in Klein Leppin baut sich die Szene ein eigenes Utopia. Wo sie ihre Version von Gemeinschaft verwirklichen. Sie wollen sich austauschen, vernetzen. Unter sich sein, mit Gleichgesinnten. Erklärt Tabea Kratzenstein:
"Ein weiterer wichtiger Punkt ist auch, dass wir ein Stück Öffentlichkeitsarbeit machen wollen. Um zu zeigen, hier sind ganz viele Menschen, die das hier bewegt. Und die Schulpflicht, die bremst das alles aus. Und schiebt das irgendwie in die Illegalität."
Jonglierende Eltern und vegane Pizza
Das Festival findet mitten im Dorf statt. Auf der einen Seite Geranien, Zäunchen und Aufsitzrasenmäher. Auf der anderen Seite jonglierende Eltern, auf Stelzen laufende Zauberer, selbsternannte Pädagogen, vegane Pizza, Esoterik.
Kratzenstein: "Es gibt ganz verschiedene Workshops. Bogenschießen, Sticken haben wir, wir haben Hennamalerei. Wir haben Akkroyoga. Alexandertechnik. Also von Kreativen über Sachen mit Bewegung. Es gibt auch einen Matheworkshop."
Über ein paar zusammengeschobenen Sofas hängt ein Schild. "Open Space". Hier sollen die Teilnehmer miteinander reden. Vorträge halten. Irgendjemand erzählt immer irgendetwas. Etwas abseits sitzt ein Paar. Sie beobachten das Treiben. Matthias und Karin Kern. Staatlich ausgebildete Lehrer. Sie sind in der Szene bekannt, haben einen Verein gegründet.
"Das ist die Freilerner Solidargemeinschaft. Die sammelt im wesentlichen Geld, um Menschen in rechtlichen Auseinandersetzungen zu unterstützen. Um Anwaltskosten zu finanzieren."
No-Schooler sind keine einheitliche Bewegung
Seine Kinder nicht in die Schule schicken: Für die Familie Kern war diese Entscheidung ein Prozess. Matthias Kern erzählt:
"Wir haben fünf Kinder. Die alle zunächst mal zur Schule gegangen sind. Und den es unterschiedlich gut oder schlecht ging in der Schule. Und wir haben uns intensiv mit freier und selbstbestimmter Bildung beschäftigt. Mit Alternativschulen. Montessori..."
Am Ende stand die Entscheidung fest. Die Kinder wurden von der Schule genommen: "Wir haben der Schulbehörde mitgeteilt, dass unsere Söhne ab sofort nicht mehr gehen würden. Und dann haben sich daraus natürlich verschiedene Streitigkeiten ergeben. Bußgeldverfahren. Irgendwann auch familiengerichtliche Ermittlungen. Wir hatten mehrere Gespräche mit dem Jugendamt. Und zuerst war das auch so, dass das Jugendamt gesagt hat, sie finden das zwar nicht gut. Aber sie sehen keine Kindeswohlgefährdung. Insofern werden sie nichts unternehmen."
Die Kerns zogen für fünf Jahre nach England. Ähnliche Lebenswege werden oft auf dem Festival erzählt. Was die Kerns von einem Teil der Festivalbesucher unterscheidet: Sie sind Überzeugungstäter. Es geht ihnen nicht um eine Abgrenzung von der Gesellschaft. Oder eine Ablehnung des so oft beschriebenen "Systems". Sie versuchen den Begriff Bildung anders zu interpretieren.
"Ich würde das gänzlich anders definieren. Ich gehe nicht von der Bildung aus... Ich würde nicht die Bildung definieren, sondern ich würde das so definieren, dass jeder junge Mensch ein Recht auf seine Bildung haben müsste. Und da drauf seine Bildung selber zu bestimmen. Und dann kann man Bildung nicht mehr in dem Sinne definieren."
Aussteiger? Freigeister? Ablehner? Esoteriker? Die Szene der No-Schooler ist schwer zu greifen. Unhomogen, zersplittert und zerstritten geht es in der Bewegung zu. Den einen geht es um das pure Thema Bildung und um nachvollziehbare Kritikpunkte. Bei anderen wirkt es mehr wie ein Streben nach Abgrenzung und Parallelgesellschaft.
(Online-Fassung: ske)