Michael Lösch ist Schriftsteller und DJ. Er lebt und arbeitet in München. 1973 siedelte er von Rumänien nach Deutschland aus und studierte Deutsch, Geschichte und Sozialkunde. Zuletzt veröffentlichte er das Buch: "Wäre Luther nicht gewesen. Das Verhängnis der Reformation." Für Deutschlandfunk Kultur verfasst er regelmäßig Politische Feuilletons.
Die Moral der Überzeugten
Mancher, der sich vor Überfremdung fürchtet, kennt kaum Fremde. Aber umgekehrt sind auch jene realitätsblind, die für Weltoffenheit werben, aber selbst von Problemvierteln abgeschottet wohnen. Schriftsteller Michael Lösch kritisiert auf beiden Seiten eine "Moral der Überzeugten".
Wer sich die Teilnehmer von AfD-Kundgebungen ins Gedächtnis ruft, wird sich auch an Typen mit gepflegten grauen Bärten und braunglänzenden Lederschuhen erinnern. Vor einem Reportermikrofon zeigen sie den gemessenen Ton eines Majoratsherren, wirken sortiert und politisch sehr verantwortungsvoll. Viele haben offenbar einen höheren Bildungsabschluss.
Ganz ähnliche Herren gehören zu meinem Bekanntenkreis. Sie leben in München mit seinem bekannt hohen Ausländeranteil. Auch sie tragen Bärte. Ihre Lederschuhe sind weniger gepflegt, aber teurer als die ihrer östlichen Kollegen.
Der Einfachheit halber nenne ich beide Gruppen die der Studienräte.
Weltfremd sind beide Fraktionen
Die in den neuen Bundesländern, etwa jene aus Dresden, fühlen sich edel wie Prinz Eugen gegen die Türken vor Wien, auch wenn nur ein verschwindend putziger Anteil Moslems in ihrer Umgebung lebt. Wie diese Ehrenmänner hab auch ich den Kommunismus erlebt, ich jenen aus Ceauşescus Rumänien, sie den der Honecker-DDR, des alten asthmatisch röchelnden Einheitsstaates. Genosse Honecker hatte immer einfache Antworten, auch auf komplizierte Sachverhalte. Und nun glaubt der Ehrenmann, mit der AfD ließe sich die Sache mit unseren Moslems in etwa so wie damals in der DDR regeln - mit kleinbürgerlicher Abgeschirmtheit und einem Verfolgungswahn aus dem Bilderreich der Verschwörungstheorien, heute nun mit rechtem Vorzeichen ... Schöne Wende!
Meine westlichen Studienräte in München dagegen gehören zur Spezies jener Humanisten, die sich in ihren Bibliotheken zurücklehnen, hin und wieder in Goethes West-Östlichem Divan blättern und sich in innigem Verständnis für das Andere üben. Leute, die insofern den östlichen Studienräten gleichen, als auch sie keine Moslems bei sich haben. Sie bewohnen eine 120-qm-Altbau-Eigentumswohnung im gentrifizierten Glockenbachviertel mit Biomarkt, Independent-Kino und Dolce-Vita-Eisdiele.
Vor allem leben sie unter Ihresgleichen. Warum haben sie keine Wohnung etwa in der Münchner Landwehrstraße, die aus etwa 1000 Metern morgenländischer Friseure, Imbissbetreibern und Second-Handy-Buden besteht? Ich finde das schade.
Der weltanschauliche Stolz geht an der Wirklichkeit vorbei
Was ich mir wünsche, ist ein neuer Typ Studienrat. Der das Leben kennt. Den höflich grüßenden, hilfsbereiten Türken aus dem Wohnblock meiner Mutter. Aber auch den, der seine Lebensgefährtin dermaßen schlägt, dass meine Mutter es nachts mit der Angst zu tun kriegt. Ich selbst habe keine Angst vor meinen islamischen Fremden. Das heißt aber nicht, dass ich jeden immer nur herzen könnte.
Diesen Job übernehmen meine westlichen Studienräte, die in jedem Moslem vor allem ein Opfer sehen: Opfer der Umstände, der gesellschaftlichen Verhältnisse, der kulturellen Verständnislosigkeit, der deutschen Indifferenz, usw. Das ist er auch, keine Frage, aber Frauen hauen geht nicht, nicht bei Deutschen und nicht bei Türken. Und machen wir uns nichts vor: Türken können übergriffig sein. So wie Deutsche auch.
Unter manchen Intellektuellen hat sich ein weltanschaulicher Stolz etabliert, der mir an der Wirklichkeit vorbei zu gehen scheint. Mein Heimatbegriff heißt: Deutschland ist erst Deutschland mit unseren Türken, verdammt, und Ihr Türken: Ihr seid in Deutschland! Und ihr Studienräte in West wie Ost: Schaut hin und hört auf, einer Prinzipientreue zu folgen, die zumindest mir faul, weil allzu simpel und undifferenziert, erscheint.