Selbstzweifel

Nur wer sich selbst infrage stellt, kommt weiter

Von Andreas Urs Sommer |
Selfies haben etwas Selbstverliebtes. Sie sind aber auch Ausdruck einer Kultur des Selbstzweifels, meint der Philosoph Andreas Urs Sommer. Anders als die neuen Rechten sieht er in der eigenen Hinterfragung keine Gefahr. Für ihn steckt darin ein Ansporn, sich weiterzuentwickeln.
Ein Gespenst geht um unter politischen Intellektuellen – nein, nicht wie Marx dachte das Gespenst des Kommunismus, sondern das Gespenst der Oikophobie. Wer unter Oikophobie leidet, fürchtet und hasst das, was sie oder ihn eigentlich ausmacht – das, was sie oder er ist. Beschworen hat das Gespenst der Oikophobie vor rund anderthalb Jahrzehnten der englische Philosoph Roger Scruton, und zwar als Gegenbegriff zu Xenophobie, die das Fremde hasst und fürchtet.

Neurechte Agitatoren warnen vor Selbstherabsetzungslust

Nach Scruton ist Oikophobie ein normales Durchgangsstadium in der menschlichen Entwicklung: Die Pubertät, in der wir ablehnen, was herkömmlich, angestammt und von den Eltern angeordnet ist. Das Problem besteht für Scruton nun aber darin, dass die westlichen Geistes- und Politik-Eliten in dieser pubertären Haltung erstarrt seien: Sie würden die eigene kulturelle Tradition, die großen Errungenschaften der europäischen Zivilisation verabscheuen, um sie als imperialistisch und ausbeuterisch zu brandmarken. Diese Eliten würden sich darin gefallen, sich und das ihre anzuklagen, sich auf die Seite der angeblichen Opfer zu schlagen und stets für die Anderen Partei zu ergreifen, wenn sich die Gelegenheit biete, das Eigene schlecht zu machen.
Während Scruton noch darüber trauert, dass Oikophobe den Erbadel aus dem House of Lords vertrieben hätten, ist das Gespenst der Oikophobie längst bei neurechten Agitatoren angekommen. Glaubt man ihnen, verdanken wir es der Oikophobie, dem Selbsthass der herrschenden und meinungsbildenden Klassen, dass Europa nun von einer Fülle fremder Migranten heimgesucht würde. Wegen der europäischen Selbstherabsetzungslust sei ein "großer Austausch" im Gange, bei dem die einheimische Bevölkerung durch eine fremdländische, vornehmlich muslimische ausgewechselt würde.

Kein Selbsthass, sondern Selbstzweifel

Nun wird man das Agitatorengeschrei angesichts des Oikophobie-Gespenstes milde belächeln, wenn man kein Geisterseher ist. Jedoch versteckt sich in der Oikophobie-Diagnose eine richtige und interessante Beobachtung, nämlich die, dass tatsächlich weder bei den sogenannten Eliten noch in der gesellschaftlichen Breite jene fraglose Selbstgewissheit, jener unbedingte Stolz auf das Eigene vorherrscht, den die alten und neuen Rechten sich zurück- oder herbeiwünschen. Ungeachtet der Frage, ob es fraglose Selbstgewissheit je gegeben hat, fällt auf, wie sehr die westliche Kultur der Jetztzeit gerade durch Selbstzweifel, durch die Fähigkeit, sich selbst radikal in Frage zu stellen, charakterisiert wird.
Nicht Selbsthass ist also das, was sich täglich beobachten lässt, sondern Selbstzweifel. Denken wir etwa an die schon suchtartig verbreitete Neigung, überall und unablässig sich selbst auf Selfies zu dokumentieren. Sie ist weniger Ausdruck der Selbstvergötzung als der permanenten Selbstüberwachung, des sich habitualisierenden Selbstzweifels: Sieht wirklich alles an mir so aus, wie es aussehen sollte?

Nur wer sich selbst infrage stellt, findet neue Lösungen

Anders als die rechten Unkenrufer glauben machen wollen, ist Selbstzweifel als Fähigkeit zur Selbstkritik, zur Selbstdistanz ein äußerst effektives Instrument der kulturellen Dynamisierung – sozusagen das Treibmittel der Jetztzeitkultur. Weil wir uns und unser Tun unablässig in Frage stellen und den bisherigen Antworten misstrauen, finden wir auch ständig neue Lösungen: in der Wissenschaft ebenso wie in der Politik, in der Ökonomie ebenso wie in der Ökologie.
Die beste aller bisher möglichen Kulturen ist die Kultur, die am stärksten an sich zweifelt. Denn sie ist diejenige, die am meisten Wege eröffnet, das eigene Leben zu gestalten. Seien wir also dankbar für Gespenster, die unsere Lebens- und Zweifelsgeister wecken.

Andreas Urs Sommer, Professor für Philosophie mit Schwerpunkt Kulturphilosophie, Akademie-Professor in Kooperation mit der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisches Seminar der Universität Freiburg. Der weltweit anerkannte Spezialist für Nietzsche ist seit 2014 Leiter der Forschungsstelle Nietzsche-Kommentar der Heidelberger Akademie der Wissenschaften.

Der Philosoph Andreas Urs Sommer
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