Das Comeback der Hannah Arendt
Ihr Essay "Die Freiheit, frei zu sein" wurde erst im vergangenen Jahr in ihrem Nachlass entdeckt, Hannah Arendt hatte ihn in den 60er-Jahren verfasst. Gleichzeitig macht ein altes Gespräch mit der bekanntesten Denkerin des 20. Jahrhunderts auf Youtube Furore.
1964 sprach Hannah Arendt eine Stunde lang mit Günter Gaus im ZDF. Schon die Titelmusik – Beethoven – verströmt eine aus der Zeit gefallene Aura der Ernsthaftigkeit. "Dieses Gespräch ist natürlich, wenn man das jetzt sieht, amüsant", findet die Berliner Philosophin Stefania Maffeis. Über Günter Gaus Schulter hinweg sieht man Hannah Arendt: eine rauchende Grande Dame.
Günter Gaus: "Frau Hannah Arendt, Sie sind die erste Frau, die in dieser Reihe portraitiert werden soll. Die erste Frau, wenn auch mit einer nach landläufiger Vorstellung höchst männlichen Beschäftigung – Sie sind Philosophin."
Maffeis: "Und sie beginnt sogleich irgendwie nervös zu sein, man sieht sie so in ihrem Stuhl wackeln und sagen: Ich muss erstmal protestieren!"
Hannah Arendt: "Ich fürchte ich muss erst einmal protestieren. Ich gehöre nicht in den Kreis der Philosophen. Mein Beruf, wenn davon überhaupt sprechen kann, ist Politische Theorie. Sie sagen es ist landläufig eine männliche Beschäftigung. Nun, es braucht ja nicht unbedingt eine männliche Beschäftigung zu bleiben."
Die alte ZDF-Sendung hat auf YouTube inzwischen eine Million Klicks, Anfang des Jahres erlebte das Video in den sozialen Medien einen richtigen Hype. Zum Vergleich bringt es der charismatische Rudi Dutschke im Gaus-Gespräch zum 68er-Jubiläum nur auf 124.000 Aufrufe.
Gleichzeitig ist Hannah Arendts neu übersetztes Essay "Die Freiheit, frei zu sein" seit Wochen unter den Top-5 der Spiegel-Bestseller-Liste – und das, obwohl Arendt das Schreiben, wie sie damals sagte, eher zum Selbstzweck betrieb:
"Wenn ich ganz ehrlich sprechen soll: Wenn ich arbeite, bin ich nicht an Wirkung nicht interessiert. Was für mich wesentlich ist: Ich muss verstehen. Zu diesem Verstehen gehört bei mir auch das Schreiben."
Altmodisches Outfit, emanzipiertes Auftreten
Die ausführlichen Theoriegespräche mit Beethoven-Erkennungsmusik sind heute im Fernsehen nicht mehr denkbar – das mag ein Grund dafür sein, dass das Video wieder so beliebt ist. Seine Mischung aus altmodischer Aufmachung und Hannah Arendts Auftreten als moderne, emanzipierte Frau ist zugleich amüsant und tief beeindruckend. Warum aber der Spiegel-Beststeller? Unter den Top-10 finden wir bei den Sachbüchern sonst eher Titel wie "Darm mit Charme" oder "Für immer Zuckerfrei". Stefania Maffeis ist trotz allem nicht verwundert:
"Immer wieder in Momenten der Unsicherheit, politischer Unsicherheit, kommt Hannah Arendt wieder in Gange und werden wieder Texte herausgebracht und neu aufgelegt. Es ist irgendwie nicht neu, dass in Momenten des Bruchs und der politischen Unstabilität und Prekarität dann Hannah Arendt wieder aktualisiert wird."
Stefania Maffeis hat gerade eine 400-seitige Habilitation über die Rezeption von Hannah Arendt in Deutschland und den USA geschrieben. Auch 1964, der Moment, in dem Günter Gaus im ZDF mit Arendt sprach, ist für sie ein solcher Moment des politischen Umbruchs – da hatte Arendt nämlich gerade ihr Buch über Adolf Eichmann und "Die Banalität des Bösen" veröffentlicht und in Deutschland veränderte sich das Selbstverständnis mit Blick auf die Nazizeit.
Einen zweiten "Hannah-Arendt-Hype" gab es dann in Deutschland 1989: Wieder ein Moment des politischen Umbruchs. Und heute? Vielleicht ist Hannah Arendts Denken deshalb für viele attraktiv, weil sie viel über das Recht auf politische Mitbestimmung geschrieben hat.
Maffeis: "Ich glaube schon dass es auch eine inhaltliche Kraft hat, die heute gebraucht wird. Dieses Recht auf Politik, das gar nicht irgendwo formalisiert werden muss, ist etwas, was jedem Menschen zusteht für Hannah Arendt und das ist etwas, was glaub ich von vielen Seiten gefühlt wird, dass es verloren geht oder dass es irgendwie noch nicht mal da war."
Eine Denkerin des Neuen
Stefania Maffeis meint, dass Hannah Arendt vor allem deshalb in Momenten des Umbruchs herangezogen wird, weil sie eine Denkerin des Neuen ist.
"Sie hat dafür plädiert, sich nicht an vergangene Normen, Mustern, Traditionen zurückzusehnen, sondern da in diesem Bruch zu leben und zu bleiben und zu schauen: Was passiert, wenn man da in diesen Brüchen bleibt. Und diese Brüche sind eigentlich auch sehr produktiv, da kann auch sich neu zusammensetzen."
Im Bestseller-Essay analysiert Arendt auf nur 40 Seiten solche Brüche in der Geschichte: Die amerikanische und die Französische Revolution. Sie wirft dabei einen materialistischen Blick auf das Konzept der Freiheit. Die titelgebende "Freiheit, frei zu sein", hat nämlich nur, wer sich einerseits von Unterdrückung und andererseits – und das ist der wichtige Punkt - von materieller Not befreit.
Das kann durchaus als Beitrag zu heutigen Debatten gelesen werden – und erklärt neben dem poppigen Titel vielleicht den Hype um das Buch: Mit Hannah Arendt muss man Politikverdrossenheit und ökonomische Ungleichheit zusammendenken – und sich in einem krisenhaften Moment bewusst sein, dass althergebrachte Muster oft nicht ausreichen, um gesellschaftspolitischen Fragestellungen gerecht zu werden.