Shenaz Patel: Die Stille von Chagos
Roman. Weidle Verlag, Bonn 2017, 159 Seiten
18 Euro
Die vergessene Vertriebenen-Tragödie
Shenaz Patels Roman "Die Stille von Chagos" erzählt von einem kleinen Archipel im Indischen Ozean, auf dem sich einst eine Tragödie abgespielt hat: Das Eiland wird zum Spielball der Weltmächte, und die Bewohner verlieren für immer ihre Heimat.
Eine berühmte Briefmarke, dazu Palmen und Strand, Anhauch des Paradiesischen: Mehr wird gemeinhin mit der Insel Mauritius nicht assoziiert. Literarisch Interessierte würden vielleicht noch das seinerzeit weltberühmte Rührstück "Paul et Virginie" nennen oder einige Romane des französischen Nobelpreisträgers Jean-Marie Gustave Le Clézio, dessen Familiengeschichte eng verbunden ist mit dieser Insel im Indischen Ozean. Wie aber ist es dann um ein Buch bestellt, in welchem Mauritius höchstens schraffierter Hintergrund ist, da die eigentliche Geschichte auf den winzigen Inseln des Chagos-Archipels spielt?
Der Weidle Verlag in Bonn ist gar nicht hoch genug zu loben, dass er nun in fluider deutscher Übersetzung einen Roman veröffentlicht, der Geschehnisse thematisiert, die nicht etwa "vergessen" sind, sondern in unserer limitierten Optik bislang noch nicht einmal existierten. Shenaz Patel, geboren 1966 auf Mauritius und sowohl auf französisch wie auch im einheimischen Kreolisch schreibend, setzt in ihrem Roman "Die Stille von Chagos" jenen Menschen ein literarisches Denkmal, die Mitte der Sechzigerjahre ihre winzigen Eilande verlassen mussten, da die britische Kolonialmacht dieses Gebiet nicht etwa in die Unabhängigkeit entließ, sondern als Militärbasis an die USA verpachtete. Seither sind viele Prozesse geführt worden, welche die Chagossianer jedoch sämtlich verloren, da sie aus juristischer Perspektive ja damals finanziell entschädigt worden wären. Tatsache ist jedoch, dass viele von ihnen auf Mauritius bis heute marginalisiert sind und sich nach ihrer alten Heimat zurücksehnen.
Lebenswelten sichtbar machen
In den Gestalten von Désiré, der sich auf Mauritius unbehaust fühlt, und Charlesia, die den gewaltsamen Abschied von ihrer kleinen Insel nie verwinden konnte, erzählt Shenaz Patel in kraftvollem Realismus und mit zahlreichen Rückblenden von dieser bis heute unbekannten Tragödie. Angesichts dieser Leistung wäre es unfair, eine gewisse Simplizität des Stils und die Eindimensionalität der Figurenzeichnung zu monieren - anders als Patrick Chamoiseau oder Edouard Glissant, die auf den französischen Antillen auf literarische Vorbilder rekurrieren konnten, betritt Shenaz Patel hier thematisch absolutes Neuland.
Mag deshalb ihr Roman auch nicht der Spitzenklasse angehören, so zeugen doch nicht zuletzt die eingestreuten Zitate kreolischer Lieder und Redewendungen vom gelungenen Bemühen, Lebenswelten sichtbar zu machen, von deren zu machen, von deren Existenz wir bislang nicht das Geringste ahnten. Das ist als schriftstellerische Leistung wahrlich nicht wenig.