Lesen im Zeitalter der Hochgeschwindigkeit
Wo und wie soll man in Ruhe ein Buch lesen, wenn alles laut und schnell ist und überall digitale Ablenkung lauert? Auf einer "Silent Reading"-Party zum Beispiel. Eberhard Schade hat getestet, ob es sich dort wirklich konzentrierter lesen lässt.
Im ICE, der mich zu dieser etwas anderen Party bringt, keine Spur von Ruhe oder gar erster Entschleunigung. Zwei Reihen vor mir sitzt ein smarter Geschäftsmann, der so oft "Listen" in sein Smartphone brüllt, das bald das ganze Großraum-Abteil nicht anders kann, als ihm zuzuhören.
Das nervt. Mein Sitznachbar zeigt demonstrativ auf das Ruhebereich-Symbol. Bis Mr. "Listen" endlich geht.
Entschleunigung im ICE - wie soll das gehen?
Dafür hüpft jetzt ein kleines Mädchen singend den Gang rauf und runter. Sie wollen wir nicht verjagen, also ziehen wir uns zurück. Ich setze meine Kopfhörer auf, scrolle mich durch mein Musikarchiv, mein Sitznachbar guckt skandinavische Krimi-Serien.
Alles Leute hier, denke ich, die wie ich jeden Tag zwischen Berufs- und Privatleben pendeln. Zwischen zu vielen Stunden im Internet, Netflix-Serien oder sonstiger digitaler Ablenkung. Und die kaum noch eine Lücke finden, mal wieder in aller Ruhe ein gutes Buch zu lesen.
Das finden auch Ann, Sascha und Leila, drei Studierende aus Kiel. Und haben über Facebook zu einer "Silent Reading"-Party eingeladen. "Nehmt ein Buch eurer Wahl, gesellt euch zueinander, um in entspannter Stille zu lesen", schreibt Ann auf Facebook und hat sich das Café Godot in der Nähe der Uni ausgesucht. Quasi als Schutzraum fürs Schmökern.
"Ist ja ein bisschen wie eine Wohnung mit verschiedenen Räumen und hat diese wunderschönen Sessel, ist auch total gemütlich und es passt perfekt, finde ich."
Der Cafébetreiber ist ein Büchernarr
Es ist halb sieben, Ann sitzt im Raucherraum des Cafés. Und ist sehr gespannt, ob die zwei Stunden heute so gut angenommen werden wie bei der Premiere vor vier Wochen.
"Es gibt nur wenige Dinge, die nicht so gut waren Zum Beispiel kam eine Frau rein, die sagte: Oh, das ist aber still hier, und wurde zweimal drauf hingewiesen, dass sie bitte nicht reden sollte, hat das aber nicht verstanden."
Der da im Hintergrund so schön lacht, ist Kaweh, der Betreiber des Cafés. Studierter Germanist, Philosoph und Büchernarr. Jedes Regal in seinem Café quillt über mit abgegriffenen Ausgaben von Sartre, Camus, Borchert und Lenz. Der gebürtige Iraner mit der Schiebermütze war sofort begeistert von Anns Idee. Jetzt freut er sich wie ein kleines Kind, dass sich vorne schon 20 Gäste eingefunden haben, es gleich losgeht und auch er zwei Stunden eintauchen kann in eins seiner Lieblingsbücher:
"Bestimmt Stanislawski nehme ich, und dann lese ich das. Über Theater. Lachen."
Nicht jeder kommt schnell ins Buch
Als Kaweh pünktlich um sieben die Musik ausstellt, setze ich mich mit Ann in den Hauptraum. Sie hat Glück, erwischt das Kanapee, ich nur einen harten Holzstuhl neben der Eingangstür. Dunkelrot gestrichene Wände, ein Kronleuchter und eine Stehlampe wie früher im Wohnzimmer meiner Oma – die Besucher lesen Liebesromane von Jostein Gaarder, Adler-Olsen-Krimis, Romane von E.L. Doctorow. Sie bestellen dazu Tee, Milchcafé, Rotwein und selbstgebackenen Zupfkuchen – sehr gemütlich eigentlich.
Mir aber ist kalt. Auch weil die Tür zur Straße dauernd auffliegt. Mehr als das Vorwort meines Buches schaffe ich hier nicht. Ähnlich geht es Jan, einem Physikstudenten mir gegenüber. Er guckt kaum in seinen Camus, steckt dafür seiner Sitznachbarin dauernd kleine Zettel zu. Auf dem Weg zur Toilette stelle ich ihn.
"Da haben wir uns ein ganz paar Sätze zugeschrieben, wir wollten niemanden stören. Nichts wichtiges, nur Banales, aber das verrat ich nicht. Aber tatsächlich war es tatsächlich hier eine andere Situation als zu Hause. Wenn ich mich zu Hause aufs Sofa setzte, geht das tatsächlich schneller. Hier musste ich mich erstmal akklimatisieren kann, man so sagen."
Zum Einstieg Augen schließen und tief durchatmen
Ann dagegen nutzt die selbstverordnete Stille.
"Kommst du gut in dein Buch? Ja, auf jeden Fall. Was mich ein bisschen stört, dass diese Tür so laut ist. Ich muss dann immer hingucken, wer kommt denn da, kenn ich den? Aber ansonsten bin ich voll drin in meiner Geschichte, musste jetzt nur mal aufstehen, um zur Toilette zu gehen. Also, für mich funktioniert das."
Und dann ist sie auch schon wieder zurück auf ihrem Kanapee, mittendrin in ihrem Fantasy-Roman.
Ich hole mir bei Kaweh einen heißen Tee, ziehe um ins grüne Zimmer. Das ist etwas kleiner und wärmer. Ich schließe kurz die Augen, atme fünfmal tief durch, so wie es ein "Slow Reading"-Club im neuseeländischen Wellington Neueinsteigern empfiehlt. Höre hier noch einen Gesprächsfetzen, dort noch eine Tasse klappern und tauche dann auf der leisesten "Party", auf der ich je war, in mein Buch ein. Und lese. Immerhin 40 Seiten am Stück.
Manche steckt die Konzentration der anderen an
Bis sich plötzlich, eine halbe Stunde vor Schluss, eine Studentin direkt neben mich setzt. Mit einem Aktenordner auf den Knien.
"Ich finde die Atmosphäre ganz schön, wenn andere sich auf etwas konzentrieren, dann fällt es mir selber auch leichter mich auf etwas zu konzentrieren und mich nicht von anderen Dingen ablenken zu lassen."
Serien gucken, am Handy rumspielen, ja sogar Putzen – das alles sei zu Hause viel spannender als BWL, sagt sie. Und ist, obwohl erst ein paar Minuten da, beneidenswert schnell auf der "Slow Reading Party" angekommen.
"Es war ein ganz interessanter Moment hier reinzukommen und alles war ganz leise. Man wird sofort von dieser Stille aufgenommen und wird ganz ruhig – in sich selbst."