Siri Hustvedt: Die Illusion der Gewissheit
Übersetzt aus dem amerikanischen Englisch von Bettina Seifried
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2018
414 Seiten, 24,00 Euro
Angriff auf die Neurowissenschaften
Die Schriftstellerin Siri Hustvedt möchte in ihrem Essay "Die Illusion der Gewissheit" auf eine Erklärungslücke der Neurowissenschaften zwischen Geist und Gehirn aufmerksam machen. Das Denken beruhe auf einer individuellen, komplexen Geschichte, das werde oft ausgeblendet. Eine stringente Argumentation liefert sie aber nicht.
Was ist der Mensch? Mit dieser uralten Frage beschäftigen sich heute Hirnforscher, Evolutionspsychologen, Genetiker, Psychiater, Computerwissenschaftler. Mal stehen die Gene im Vordergrund, mal Nervenerregungen oder Denkprogramme. Bei allen Unterschieden scheint eines klar zu sein: Nach Jahrhunderten des Philosophierens gibt es endlich konkrete Antworten.
Siris Hustvedt ist anderer Ansicht. In ihrem Buch "Die Illusion der Gewissheit" bohrt sie genüsslich Löcher in allzu abgeschlossene Theorien. Sie greift den Psychologen und Kognitionswissenschaftler Steven Pinker und den US-amerikanischen Autor Ray Kurzweil an, verwischt die scheinbar klaren Trennlinien zwischen Geist und Gehirn, Gen und Umwelt, Mann und Frau.
Das Denken beruht auf Gefühlen, Körper und Beziehungen
Gleich zu Anfang hinterfragt sie das Urbild der Philosophie: "Ein Mann sitzt allein in einem Raum und denkt. Wie dieser Mann dort hingelangte, ist meist nicht Bestandteil des Bildes." Dabei prägt die individuelle Geschichte das Denken, betont Siri Hustvedt, das auf Gefühlen, auf Interessen, auf einem Körper, auf sozialen Beziehungen beruhe. Wer diese Komplexität ausblende, erhält ein vielleicht logisches, aber verarmtes Modell des Geistes, so die Amerikanerin.
Besonders augenfällig ist das für Siri Hustvedt am Beispiel der Geschlechterrollen. Dabei werde immer wieder die räumliche Vorstellungskraft der Männer zitiert. "Die fast obsessive Fixierung auf die Manipulation dreidimensionaler Objekte kommt mir langsam, muss ich gestehen, ein wenig verzweifelt vor."
Dass Siri Hustvedt der individuellen Geschichte eine so große Bedeutung beimisst, ist kein Zufall, schließlich ist sie selbst zuallererst Schriftstellerin. Ein unerklärliches Zittern hat sie dazu gebracht, sich in die Neurowissenschaften hinzuarbeiten. Inzwischen hat Siri Hustvedt schon einige Artikel in Fachjournalen veröffentlicht. Sie ist also kompetent, aber sie bleibt Außenseiterin. Wahrscheinlich misstraut sie deshalb scheinbaren Gewissheiten. Ihr Buch wimmelt von Fragezeichen. Klare Antworten kann und will sie dagegen nicht geben. "Ich versuche nicht, dieses Loch zu stopfen. Ich will nur auf die sogenannte 'Erklärungslücke' zwischen Geist und Gehirn aufmerksam machen."
Hustvedt folgt vor allem eigenen Assoziationen
Siri Hustvedt Kritik der Naturwissenschaft kommt sehr geisteswissenschaftlich daher. Es werden kaum konkrete Studien zitiert. Stattdessen vergleicht sie Zitate, verfolgt Denkschulen bis in die Antike zurück und führt sich häufig selbst als Beispiel an. Der Verlag nennt das Ganze einen "gelehrsamen Essay".
Das Buch ist ganz sicher bildungsschwer, aber tatsächlich argumentiert Hustvedt nicht stringent. Vieles reißt sie nur an, wechselt ständig die Themen und wiederholt sich dabei. Es scheint, als ob die Autorin einer rein rationalen Denktradition auch schon im eigenen Schreibstil entgegentreten will. Sie folgt ihren Assoziationen und die Leser müssen sehen, ob sie hinterher kommen. Das ist schade, denn in einem hat Siri Hustvedt ganz sicher recht: "Der Zweifel ist nicht nur eine Tugend der Intelligenz, er ist ihre notwendige Voraussetzung."