Psychologen hinter Gittern
Täglich begegnen sie Straftätern, Räubern, Mördern und Vergewaltigern. Doch über die Arbeit von Psychologen in Gefängnissen ist wenig bekannt. Mit Einzel- und Gruppentherapien wollen sie den Häftlingen helfen, nach der Entlassung ein straffreies Leben zu führen.
Claudia Groß: "Das ist jetzt ein typischer Haftraum, sehen alle gleich aus, haben alle Standardausstattung, und zum Teil die Möbel sind von der anstaltseigenen Schreinerei, aber das ist so der klassische Haftraum."
Keine zehn Quadratmeter groß ist die Zelle in der sozialtherapeutischen Abteilung der Justizvollzugsanstalt Amberg. Klein, aber doch besser, als eine mit anderen Häftlingen zu teilen, wie sonst meist üblich im normalen Strafvollzug:
"Wir haben einen Schrank für die Kleidung oder für persönliche Dinge, einen Schreibtisch, 'ne Pinnwand, wo eben auch mal persönliche Bilder hingehängt werden können oder manchmal hängen Dingen von der Therapie da, kleine Merkblätter, damit sie eben auch zwischen den Therapiestunden auch noch an Hausaufgaben arbeiten können."
Die Psychologin Claudia Groß leitet die sozialtherapeutische Abteilung, die seit 2012 in einem Neubau untergebracht ist. Von außen wirkt der Bau abweisend, die Fenster vergittert, innen freundlicher, an den Wänden im Treppenhaus hängen Fotos und Bilder – gemalt von den Häftlingen.
"Von den Freizeiträumen haben wir zwei Stück, einen im zweiten und einen im ersten Stock, das hier ist so unser Kickerraum und unten befinden sich dann eher Bücher, für Spiele und ruhigere Sachen und es wird durchaus viel genutzt."
Die Räume könnten auch in einer Klinik oder einer Jugendherberge sein − wären dann aber wohl nicht vom Gang aus durch Fenster jederzeit einsehbar. Es ist Mittagszeit, auf den Gängen und in den Zellen sind Häftlinge, die Haare kurz geschoren, die meisten tätowiert. Nach dem gemeinsamen Essen geht es wieder in die Gefängniswerkstätten. Und nach der Arbeit beginnt die Therapie. Gefängnisalltag. Der ist hier genauso wie in der JVA Erlangen, die eine der ältesten sozialtherapeutischen Einrichtungen in Deutschland ist, gegründet 1972:
"Ich bin 51 Jahre, werde 52, bin 21,5 Jahre im Gefängnis und verurteilt wegen versuchten Mordes."
Peter Mayer, der Name wurde auf Wunsch geändert, ist seit fünf Jahren in Erlangen. Er war bis zu seiner Verlegung 16 Jahre in der JVA Straubing im normalen Strafvollzug. Peter Mayer ist mehrfach vorbestraft:
"Ich war ja zuvor schon inhaftiert, und ich bin aus dem Gefängnis rausgekommen, hab mich geschüttelt, und genauso weiter gelebt wie davor auch. Zuvor waren es halt eher harmlosere Delikte und geendet hat das damit, dass ich einfach jemanden totgeschlagen habe. Wo aber die Ursache aber auch von dem gekommen ist, dass ich einfach gelebt habe, ohne über irgendwas nachzudenken, ohne Rücksicht auf andere, einfach nur: Wo sind meine eigenen Interessen, wie setze ich die um, ohne dass interessiert das nebendran, nur die eigene Linie."
Häftlinge müssen mit Therapie einverstanden sein
Ende der 60er-Jahre wurden die ersten beiden sozialtherapeutischen Modelleinrichtungen für besonders rückfallgefährdete Straftäter eröffnet, in Hamburg und in Baden-Württemberg. Seit 1977 ist die Unterbringung von Gewalt- und Sexualstraftätern in sozialtherapeutische Einrichtungen im Strafvollzugsgesetz verankert, zuerst als Kann-Vorschrift, seit 1998 für Sexualstraftäter als verpflichtende Maßnahme ab einem Strafmaß von mehr als zwei Jahren. Wenn es angezeigt ist, wenn also Rückfälle zu erwarten sind und es keine Gründe gibt, die gegen eine Behandlung sprechen, wie etwa eine akute Suchterkrankung. Und die Häftlinge müssen einverstanden sein.
Rudolf Egg, Leiter der Kriminologischen Zentralstelle in Wiesbaden, beschäftigt sich schon seit 40 Jahren mit dem Thema Sozialtherapie:
"Bei den neuen Strafvollzugsgesetzen wird das ein bisschen unterschiedlich gehandhabt, von Land zu Land verschieden, und aus meiner Sicht besser gelöst, weil man nicht auf so ein formales Kriterium wie ein Strafmaß abstellt, sondern auf die Notwendigkeit, die sich aus der anhaltenden Gefährlichkeit eines Verurteilten ergibt."
Seit der Föderalismusreform von 2006 ist der Strafvollzug Ländersache. Inzwischen gibt es bundesweit 65 sozialtherapeutische Einrichtungen mit mehr als 2.300 Haftplätzen. Zum Vergleich: 1997 waren es nur 888. Die Häftlinge, die dort therapiert werden, sind überwiegend männlich − es gibt nur 56 Therapieplätze für Frauen − und sie sind in der Regel mehrfach vorbestraft wegen Sexual- und Gewaltdelikten, also Mord, Totschlag, Körperverletzung, Raub, Vergewaltigung, Missbrauch. Die Einrichtung in Amberg verfügt über insgesamt 32 Therapieplätze für Sexual- und Gewaltstraftäter. Unter den Häftlingen sind auch solche, die nach ihrer Haftzeit als Sicherungsverwahrte auf unbestimmte Zeit hinter Gittern bleiben müssen.
Claudia Groß: "Ja, ein typischer Fall ist ein Gewalttäter, der bereits früh mit 17, 18 Jahren schon strafrechtlich in Erscheinung getreten ist, das waren vor allen Dingen erst mal Körperverletzungsdelikte und dann eben auch eine räuberische Erpressung, mit anderen jemanden überfallen und ausgeraubt, dann kamen Inhaftierungen, kam wieder zu Entlassungen, dann kam es drei Jahre später wiederum zu einem Raubdelikt, und dann war wieder eine längere Inhaftierung, und was dazu kommt, es liegt eine schwerwiegende Suchterkrankung vor, es gab zwei abgebrochene Therapien im Maßregelvollzug, die beide gescheitert sind, an Suchtmittelrückfällen. Und das aktuelle Delikt ist jetzt auch eine Misshandlung und eine schwere Körperverletzung. Und bei diesem aktuellen Delikt wurde dann vom Gericht die Sicherungsverwahrung vorgemerkt."
Sozialtherapie kann auch für solche schwere Fälle ein Weg in die Freiheit sein. Auch wenn es lange dauern kann. Mindestens zwei Jahre läuft die Therapie, bei manchen auch deutlich länger, drei, vier oder fünf Jahre. Die Sicherungsverwahrten werden dann von externen Fachleuten begutachtet, um zu bestimmen, wie hoch ihre Gefährlichkeit noch ist.
Je länger die Haftstrafen, je schwerer die Tat, je problematischer der bisherige Lebensweg, desto größer der Therapiebedarf. Ein wichtiges Therapieziel ist es, das Rückfallrisiko zu senken. Aber nicht nur das. Michael Behnke, Psychologe und Leiter der JVA Erlangen:
"Das Ziel ist durchaus auch beim Täter angesiedelt, er soll ja nun auch irgendwo für sich was entdecken, was er an seinem Leben schöner und gelingender gestalten möchte. Die wollen ja auch nicht ihr ganzes Leben eingesperrt sein, auch da gibts unter Umständen Ziele, die da verwirklicht werden wollen, und es soll schon auch dem Täter zu einer gelingenden Lebensführung verholfen werden. Aber wir haben natürlich auch einen Auftrag der Gesellschaft, Rückfälle zu verhindern oder zu vermeiden oder die Wahrscheinlichkeit für Rückfälle zu reduzieren und damit zielt es natürlich auch darauf, neue Opfer zu verhindern."
Claudia Groß: "Also hier unten finden dann auch alle Gruppen statt, die Einzelgespräche werden in den Büros durchgeführt, ja, das ist jetzt so ein typischer Gruppenraum, sie sehen da Flaps ..."
... Flipcharts, großformatige Papiere, die an einem Gestell und an den Wänden hängen ...
"Das ist jetzt zum Beispiel nur so eine Aufzählung, was gibt es dann überhaupt für Gefühle, denn viele haben große Schwierigkeiten, überhaupt irgendwelche Emotionen zum Ausdruck zu bringen, die überhaupt zu benennen, ein Wort zu finden. Und je weniger ich Sprache habe für das was ich fühle, für das was ich denke, für meine Probleme, desto mehr neige ich dazu, die vielleicht über Aggressionen zum Ausdruck zu bringen."
Das Therapieprogramm besteht aus Einzelgesprächen und Gruppentherapie. Jeder Häftling hat einen Bezugstherapeuten. Und er muss immer wieder seine Gedanken auch schriftlich zu Papier bringen. Die therapeutischen Ansätze wurden über die Jahrzehnte immer wieder wissenschaftlich untersucht. Rudolf Egg:
"Am Anfang sah es so aus, als gäbe es nur so psychoanalytische Einzeltherapien, vielleicht Gruppentherapien, das war in den frühen 70er-Jahren so die Methode der Wahl. Heute haben wir seit 10, 15 Jahren überwiegend in England, in Kanada, in Amerika entwickelte verhaltensorientierte, deliktorientierte Gruppenformen, die sich direkter um die Risikosteuerung bei der Begehung von Straftaten kümmern, das heißt, die sind sehr viel kürzer, die lassen sich eben in Gruppen machen und sind sehr viel gezielter auf die Risiken und die Schutzfaktoren, die es eben zu stärken gilt, die Risiken, die es zu schwächen gilt, ausgerichtet, als das früher der Fall war, wo man vielleicht viel zu lange und zu mühsam sich mit biografischen Entwicklungen auseinandergesetzt hat, ohne dass man so sehen und sagen konnte, das hat nun tatsächlich zu tun mit der Begehung von Straftaten."
Verzerrung und Bagatellisierung erkennen
Die Häftlinge sollen sich in der Gruppentherapie der Entscheidungsketten vor einer Tat bewusst werden. Um erkennen zu können, wo sie anders hätten handeln können. Claudia Groß, die Leiterin der sozialtherapeutischen Abteilung in Amberg:
"Und da ist es natürlich unabdingbar, dass der Gegenstand, das Delikt selber auch zur Sprache kommt, dass man das bearbeiten kann. Und das machen wir sehr dezidiert und sehr ausführlich. Und es ist natürlich auch so, in der Gruppe hab ich den Vorteil, dass sich die Probanden auch gegenseitig ein Korrektiv darstellen und sich gegenseitig austauschen, und auch letztendlich durch die Berichte der anderen letztendlich Parallelen zur eigenen Straftat ziehen können und sich damit auseinandersetzen können."
Rudolf Egg: "Das heißt, die anderen Gefangene dieser Therapiegruppen sind dann zwar nicht Co-Therapeuten im engen Sinne, aber sie sind doch jemand, der das begleitet, kommentiert, weil nämlich ein anderer Täter der gleichen oder ähnlichen Deliktgruppe sehr viel eher erkennt, wo denn jemand die Sache sich schön schreibt, schön erzählt, wo kognitive Verzerrungen, Bagatellisierungen sind, wenn er sagt: Das glaube ich überhaupt nicht, dass das so war, das muss ganz anders gewesen sein. Das heißt, diese direkte Konfrontation mit anderen Tätern ist da ein Medium, das man gerne nutzt in der Therapie und das wäre zum Beispiel bei einer Einzeltherapie so nicht möglich, wobei Einzeltherapie es nach wie vor gibt, neben den Gruppen zum Beispiel."
Im Verlauf der Therapie sollen Denkmuster aufgebrochen werden, die sich über die Jahre verfestigt haben. Peter Mayer, Häftling in der JVA Erlangen:
"Man hat zwar schon immer wieder drüber nachgedacht, warum hast du denn den jetzt totgeschlagen, aber es hat sich eigentlich immer im Kreis gedreht: 'Ja hätte der nicht, dann wäre das nicht'. Und hat mehr die eigene Schuld von sich versucht immer ein wenig wegzuschieben: 'Der andere hat ja auch'. Und hier, so durch die ganze Therapie, das hat zwei Jahre gedauert, sind die Hintergründe, was man eigentlich selber verkehrt gemacht hat, und die Schuld einfach einmal, wo man dann gesehen hat, halt, das hast du ja tatsächlich selber verkehrt gemacht. Das Opfer in meinem Fall, das hat gar nichts dafür gekonnt."
Während der Therapie geht es aber auch um die Biografie der Täter. In Erlangen heißt eine Einheit im deliktorientierten Training "Gewalt in meinem Leben".
Häftling: "In der Schule immer der Kleinste gewesen und ja, da hast halt immer versucht, dich durchzusetzen. Und man hat halt festgestellt, wenn man sich durchsetzen kann, dann funktioniert das auch, dann ist niemand da, der wo auf einen selber rumdrückt. Drück auf den anderen rum, ist besser."
Viele Gewalttäter stammen aus sozial schwierigen Verhältnissen, oft wurden sie von ihren Eltern, meist von den Vätern, geschlagen. Darüber zu sprechen, fällt vielen erst einmal schwer, sagt Nicola Buchen-Adam, Therapeutin in der JVA Erlangen:
"Die Erfahrung, auch von den Müttern im Stich gelassen zu werden, ist dann auch traumatisierend. Der eine speziell war einer, der sehr, sehr verhärtet war, also sehr, sehr kalt auch war. Und irgendwann zu seinem Vater gesagt hat: Wenn du mich noch einmal schlägst, schlage ich dich tot. Und mit dieser Strategie dann fortan durchs Leben gegangen ist, also bevor mich einer wieder schlägt, schlage ich den tot, und er hat auch sehr brutal Gewalt ausgeübt."
Zum Therapieprogramm gehört auch ein soziales Kompetenztraining und ein Rückfallvermeidungstraining. Dabei geht es darum, in Zukunft Risikosituationen frühzeitig zu erkennen, um dann angemessen handeln zu können. Beispielsweise wenn ein Missbrauchstäter eine neue Partnerin findet, die Kinder hat, die im Alter seiner vorherigen Opfer sind. Marie-Therese Krämer, Sozialpädagogin in der JVA Amberg:
"Zuerst einmal muss er sich Dinge bewusst machen, dass er sich gerade in eine schwierige Situation begibt, dass die Möglichkeit besteht, dass er ein Opfer schaffen kann. Dann ist es wichtig, die Partnerin darüber zu informieren über das Vorleben, damit die ein Auge auf ihn haben kann. Oder natürlich auch die Möglichkeit hat, sich zu trennen. Und mit wem spreche ich darüber, wen hole ich mir als Hilfe, wer ist dazu geeignet als Gesprächspartner? In so einem Fall wahrscheinlich der Nachfolgetherapeut."
Theater, Schach und Kochen
Claudia Groß: "Das ist jetzt der Musikraum mit den Musikinstrumenten, in der Regel nehmen ungefähr fünf bis sechs Leute an der Musikgruppe teil, die hier tatsächlich auch ein Musikinstrument oft erlernen."
Das Team in den therapeutischen Einrichtungen besteht nicht nur aus Psychologen und Sozialpädagogen. Eine wichtige Rolle spielt auch das Wachpersonal, die "uniformierten Kollegen". Sie sorgen nicht nur für die Sicherheit, etwa durch Haftraumkontrollen, sondern sind auch aktiv am therapeutischen Prozess beteiligt, indem sie verschiedene Begleitgruppen leiten:
"Wir haben eine Musikgruppe, eine Theatergruppe, eine Kunstgruppe, Kochgruppe, Sportgruppe, autogenes Training und Schach, Schachgruppe."
Und die Beamten nehmen auch an den Teambesprechungen teil:
"Das ist uns auch wichtig, weil die Kollegen sehen die Probanden den ganzen Tag, haben am meisten mit ihnen zu tun. Und wir Fachdienste kriegen das eine oder andere nicht so viel mit wie die Kollegen, deswegen tauschen wir uns auch sehr sehr viel aus."
In Amberg gibt es auch eine Holzwerkstatt. Dort werden Vogelhäuser gebaut, Insektenhotels, aber auch Dinge für die Anstalt. Unter der Leitung und Aufsicht von Manfred Obendorfer:
"Und wir stellen also fest, grad wenn so Vogelhäuser fertig werden, ist die Motivation doch groß bei den Leuten, weil sie sehen, sie können was, sie schaffen was, das kommt gut an, das wird angenommen von den Leuten, wird auch verkauft hier im Haus, bei den Kollegen, aber auch nach außen."
Und natürlich gibt es dort dasselbe Werkzeug wie draußen: Hammer, Stechbeitel, Stemmeisen, Schraubenzieher – alles potentielle Waffen. Die Beamten innerhalb der Einrichtung sind unbewaffnet. Manfred Obendorfer:
"Mit der Sicherheit hier drin im Betrieb, ich hab vier Leute, da ist man halt dann die ganze Zeit am Schauen, muss beobachten, muss schauen, wie reagieren sie, wie kommen sie in der Früh. Deswegen ist hier immer erst mal so eine Frührunde, wo gesprochen wird, was machen wir heute, wie geht es euch? Und dann sieht man dann schon mal der eine oder andere, da geht es ihm nicht so schlecht, wir wissen auch durch die Briefkontrolle, kommt einmal eine schlechte Nachricht, o.k. muss ein bisschen mehr schauen auf den, wie ist er drauf und so. Aber ansonsten, bis jetzt funktionierts, toi toi toi."
Vergewaltigung durch einen Häftling
Die Arbeit der Psychologen und Sozialpädagogen hinter Gittern ist nicht ungefährlich.
"Das war schon klar, dass die zum Teil wirklich gruselige Dinge getan haben, auf jeden Fall eine gewisse Bereitschaft Regeln nicht einzuhalten. Das haben Sie, wenn Sie im Gefängnis arbeiten, immer im Hinterkopf."
Susanne Preusker hatte in der JVA Straubing die sozialtherapeutische Abteilung aufgebaut und geleitet. Im April 2009 nimmt ein Sexualstraftäter die Psychologin während eines Gesprächstermins in ihrem Büro als Geisel und verbarrikadiert sich mit ihr in dem Zimmer. Er verbindet ihr den Mund und vergewaltigt sie mehrfach. Susanne Preusker hatte Todesangst, sie wusste, sein letztes Opfer ist an seiner Knebelung erstickt. Hatte sie im therapeutischen Alltag die Gefährlichkeit des Häftlings vergessen oder falsch eingeschätzt?
"Vergessen habe ich es nicht, falsch eingeschätzt? Die Frage hat mich über lange Zeit, Tag und Nacht beschäftigt. Ich habe jetzt mal beschlossen, da nicht mehr drüber nachzudenken, weil klar, ich habe mir nichts vorzuwerfen. Ich kann mir jetzt nicht sagen, so, du hättest das anders machen müssen. Das ist alles nicht so. Aber klar ist eben auch, dass ich natürlich irgendwas übersehen haben muss, sonst wäre es ja nicht passiert. Wo da der Fehler lag − ich kann es Ihnen nicht sagen."
Seit diesem Vorfall hat Susanne Preusker keine sozialtherapeutische Einrichtung mehr betreten. Der Täter wurde verurteilt: 13 Jahre und neun Monate Haft mit anschließender Sicherungsverwahrung. Sie hofft, dass er nie mehr frei kommt. Ihre frühere Arbeit hält sie trotzdem für sinnvoll und notwendig:
"Ich hab immer auf dem Standpunkt gestanden, man kann nicht alle Gefangenen gesundbeten, irgendwie kommen Psychologen auch mal an ihre Grenzen, die sind nicht erreichbar, das war immer mein Standpunkt. Mein Standpunkt war auch immer, dass man es bei den erreichbaren Fällen unbedingt versuchen muss. Also ich halte Sozialtherapie und Psychologen im Vollzug für unverzichtbar und ich weiß aus meiner eigenen Tätigkeit und der Tätigkeit vieler, vieler Kollegen, die ich natürlich kannte, die machen einfach eine verdammt gute, mühevolle, aber qualitativ supergute Arbeit. Und das mit mir, das war halt mein persönliches Waterloo, klar, aber letztendlich war es, wenn man so will, ein Unfall in einem unfallträchtigen Arbeitsbereich. So was kann passieren, es sollte nicht passieren, aber es ist für die Betroffenen natürlich die ultimative Katastrophe, ändert aber nichts daran, dass die Arbeit sinnvoll ist."
Michael Behnke: "Ja, das hat uns natürlich alle beschäftigt,zunächst auf der menschlichen Ebene, weil wir alle die Frau Preusker gut gekannt haben und befreundet waren."
Michael Behnke, der Leiter der JVA Erlangen.
"Dass so was Schlimmes mit einer guten und geschätzten Kollegin passiert ist. Natürlich überlegt man sich da Konsequenzen und überlegt, wie man sich selber auch absichern kann. Jetzt ich in meiner Rolle, was ich auch für die Kollegen tun kann, um ein besseres Gefühl von Sicherheit zu schaffen, wobei wir das schon immer sehr ernst genommen haben und durch einige organisatorische Prozesse des Alltags auch schon immer drauf geschaut haben, dass Sicherheit für die Kolleginnen und Kollegen gegeben ist."
Das Verbrechen in Straubing hatte auch Konsequenzen für den Neubau der sozialtherapeutischen Abteilung in Amberg, dort wurde deswegen noch mehr auf die Sicherheit der Beschäftigten geachtet. Claudia Groß:
"Wir haben natürlich Funkgerät, Alarmknopf im Büro, wir haben eine enge Zusammenarbeit mit den uniformierten Kollegen, zum Beispiel, dass der Bürobereich abgeschlossen ist, das heißt, es kann keiner von den Probanden ungefragt in diesen Bereich reinkommen. Wir haben hier in dem Neubau, das ist neu in Bayern, alle Türen nach außen aufgehend, dass man die Tür nicht verbarrikadieren kann. Das sind, denke ich, so Beispiele, wo man einfach versucht, Sicherheit mit dem Therapiegedanken zu integrieren.
Aus meiner Sicht, da müssen wir auch immer wieder an uns arbeiten, ist eine Hellhörigkeit, und auch letztendlich auch den Mut zu haben zu sagen, ich möchte jetzt zum Beispiel dieses Gespräch nicht machen, ich habe ein schlechtes Gefühl bei der Sache, aber ich kann nicht sagen, ich kann absolute Sicherheit schaffen, das kann ich aber in keinem Bereich, absolute Sicherheit schaffen."
Ein Teil des Programmes, das die Häftlinge durchlaufen, ist auch, sich über die Zukunft Gedanken zu machen. Ein „Zukunfts-Ich" zu entwerfen. Die Sozialpädagogin Marie-Therese Krämer:
"Wichtig ist, einfach noch mal den Unterschied zu sehen, wer war ich und wer will ich in Zukunft sein, wie kann das ablaufen, was brauche ich im Leben, um glücklich zu sein oder einen ausgeglichenen Lebensstil zu führen, um eben nicht mehr rückfällig zu werden."
Häftling: "Das Zukunfts-Ich, was werde ich draußen einmal machen, ist natürlich für einen Lebenslänglichen ein wenig schwer zu sagen. Sicher, man hat Vorstellungen, was möchte man, aber da kommt halt die Realität, was ist machbar, nach über 21 Jahren Knast, die ich dann habe, ist halt die Realität so: Stempel, und schauen, dass man über die Runden kommen tut."
Sie kommen aus einer Welt ohne Internet und Computer
Die Häftlinge werden intensiv auf die Zeit nach der Haft vorbereitet. Sie bekommen Hilfe bei der Lehrstellen-, Arbeits- und Wohnungssuche. Vor der Entlassung lernen sie das Draußen auf begleiteten Ausflügen kennen. Dieses Übergangsmangement ist ein wichtiger Faktor, damit der Wechsel von dem sehr strukturierten Umfeld aus der Sozialtherapie hinaus in die Freiheit gelingt. Dafür arbeiten die Einrichtungen auch mit externen Stellen wie Bewährungshilfe, Polizei und Suchtberatung zusammen. Viele Häftlinge saßen jahrzehntelang hinter Gittern. Die Welt war eine andere, sie haben noch mit D-Mark bezahlt, kennen kein Internet, können keine Computer bedienen. Peter Mayer, Häftling in Erlangen:
"Ein Computerkurs gibt's seit neuestem, den mach ich jetzt. Mittlerweile weiß ich, wie man ihn einschaltet, kann ihn auch ausmachen, ohne dass er kaputt geht. Ich muss es komplett neu lernen, komplett neue Welt." (lacht)
Der Aufwand, der für die Therapie der Gewalt- und Sexualstraftäter über Jahre hinweg betrieben wird, ist enorm. Ausschlaggebend für den Erfolg ist die Veränderungsbereitschaft des einzelnen Häftlings – die sich nicht erzwingen lässt.
Claudia Groß: "Grundsätzlich ist glaube ich jeder Mensch in der Lage, persönliche Veränderungen bei sich herbei zu führen, und grundsätzlich denke ich, ist Veränderung auch bis ins hohe Alter möglich. Das sagt uns ja die allgemeine Therapieforschung. Nicht-therapierbar ist dann, wenn eben diese Veränderungsbereitschaft nicht hergestellt werden kann, und wenn jemand keine innere Bereitschaft entwickelt, sich auf eine Therapie einzulassen, und da sind dann unsere Grenzen erreicht, wenn ich diese Motivation nicht herstellen kann. Und da kann ich natürlich bei keinem einen Knopf drücken, und sagen: Jetzt bist du motiviert und jetzt ist er bereit, sich auf die Therapie einzulassen. Da sind, denke ich, unsere Grenzen."
Einzel- und Gruppentherapie, Musik-, Mal- Schach- und Theatergruppe, Autogenes Training, Einzelunterbringung. Alles um aus den Häftlingen andere Menschen zu machen, sozialverträglichere. Für manche konservativen Politiker klingen diese Programme dann zu wenig nach Strafe. So ließ Roger Kusch, damals noch CDU-Mitglied, als Justizsenator in Hamburg 2005 die beiden sozialtherapeutischen Einrichtungen schließen, darunter die älteste Deutschlands, trotz Kritik von Wissenschaftlern und Richtern. Besonders nach schweren Straftaten werden immer wieder Rufe laut nach langen harten Strafen. Rudolf Egg, der Leiter der Kriminologischen Zentralstelle in Wiesbaden:
"Es wird dann immer übersehen, dass auch nach sehr langen Strafen wir Menschen in der Regel wieder frei lassen, selbst wenn sie eine lebenslange Freiheitsstrafe haben, gibt es den grundsätzlichen Anspruch darauf, nach Verbüßung einer gewissen Mindestzeit wieder entlassen zu werden, wenn man eben nicht mehr so eine hohe Gefährlichkeit hat. Und das Ziel des Strafvollzuges ist es auch, nicht nur die verhängte Strafe zu vollstrecken, sondern jemanden auch zu befähigen − so sagen das alle Strafvollzugsgesetze in Deutschland − künftig in sozialer Verantwortung und ohne Straftaten zu leben. Das heißt, das ist ein Auftrag, ein Auftrag an den Vollzug, das ist eigentlich auch ein gesamtgesellschaftlicher Auftrag und es ist ein Auftrag an den Betreffenden selber, der darf nicht einfach sich hinsetzen und warten, dass man etwas mit ihm macht. Wenn sich jemand einlässt auf eine Therapie, dann kann das Ganze auch erfolgreich sein."
Häftling: "Das Ansehen − es sind halt die Weicheier, auf Deutsch gesagt, das wird offen geredet, was dann jeder mit sich selber so ausmacht, das weiß man nicht. Für mich muss ich sagen, ich hab nur profitiert − und es ist halt auch ein Weg nach draußen.
Für mich war es schon gut, dass ich auch andere Wege gesehen hab, man kann anders handeln, und nicht immer mit dem Dampfhammer drauf, man kann Sachen auch einfach mal gut sein lassen, man muss nicht immer gleich Vollgas drauf. Das ist das, was man hier lernt."
Stärkung der Lebenskraft ist eine Daueraufgabe
Der Lohn der Sozialtherapie ist eine geringere Rückfallquote. Etwa 25 bis 30 Prozent aller unbehandelten Straftäter werden rückfällig, je nach Straftat. Bei denjenigen, die eine Sozialtherapie durchlaufen haben, ist die Rückfallwahrscheinlichkeit um etwa ein Drittel geringer. Langfristig steige die Quote allerdings wieder an, erklärt Rudolf Egg.
"Als ich Anfang der 90er-Jahre eine Rückfallstudie von Gefangenen, die ich in den 70er-Jahren begutachtet hatte, also mit sehr langer Intervallzeit nach der Entlassung, mir angeschaut hab, wie viele davon sind rückfällig geworden, da war man nicht so begeistert. Ich auch nicht, weil ich damit zeigen konnte, dass die Rückfälligkeit geringer war, aber nur in den ersten vier Jahren, als bei einer Vergleichsgruppe ohne diese Behandlung, dass sich das aber im Laufe der Zeit wieder ausgeglichen hat.
Das ist irgendwo eine Daueraufgabe, ein Dauerprozess, weil bei vielen die Biografien und die Lebenskraft, die psychische Kraft schon von Kindheit an nicht so gestärkt wurde, dass man da ein erfolgreiches Leben führen kann und diese Stützen, die man da bekommt, wenn ich mal bei diesem Bild bleiben darf, so als wenn jemand nicht richtig gehen kann, braucht er eine Gehhilfe, die müssen dann immer wieder erneuert werden, immer wieder aufgefrischt werden."
Michael Behnke: "Naja, Rückfallvermeidung hat natürlich viele Facetten, die absolute Wunschvorstellung ist natürlich, dass jemand überhaupt nicht mehr straffällig wird, ganz klar. Ein zweites Merkmal von Erfolg könnte aber zum Beispiel auch sein, dass jemand zwar rückfällig wird, aber mit einem weitaus, in Anführungsstrichen harmloseren Delikt. Also mit einem Delikt, das weitaus weniger Schädigungspotential hat für ein künftiges Opfer. Ein weiteres Erfolgskriterium könnte tatsächlich auch da drin bestehen, dass einfach die Intervalle bis zum nächsten Rückfall sich verlängern, wird man ja im Suchtbereich ähnlicherweise als Erfolg betrachten, wenn jemand, der nach drei Wochen rückfällig geworden ist bislang, und der hält dann mal drei Jahre durch, dann ist auch das ein Erfolg."
Die Psychologen in den Anstalten können auch von persönlichen Erfolgserlebnissen erzählen. Sie halten oft noch über Jahre Kontakt zu ehemaligen Häftlingen. Claudia Groß:
"Ja, ich hab zum Beispiel einen Sexualtäter gehabt, der jetzt wirklich eine Partnerin gefunden hat, ist Vater von einem Kind geworden, hat sich unheimlich gut in der Therapie entwickelt und hat jetzt nach Jahren ein ganz solides Leben, berufstätig, keine Schulden, keine Suchtproblematik mehr, der sich aber auch wirklich sehr, sehr regelmäßig meldet. Und der sich auch nach der Entlassung immer mal wieder, wenn es für ihn schwierige Situationen gab, gemeldet hat und sich noch mal einen Rat geholt hat. Und das ist sicher ein Fall, der auch einen selber freut, wenn man nach Jahren von jemanden hört oder immer wieder regelmäßig von jemanden hört und auch merkt, da hat jemand wirklich sein Leben im Griff, der auch sehr offen und ehrlich mit sich und seiner Straftat umgegangen ist. Gibt es auch."