Soziologische Forschung zum Wahlverhalten

Die Wissenschaft hinkt der AfD hinterher

"Wahlsieg" steht auf einem der Transparente während der Kundgebung der islamfeindlichen Pegida-Bewegung am 25.09.2017 auf dem Neumarkt in Dresden (Sachsen). Betont einmütig haben Pegida und AfD am Montagabend in Dresden den Wahlerfolg der Rechtspopulisten bei der Bundestagswahl gefeiert.
"Wahlsieg" steht auf einem der Transparente während einer Kundgebung der islamfeindlichen Pegida-Bewegung am Montag nach der Bundestagswahl. Betont einmütig feierten Pegida und AfD in Dresden © dpa / picture alliance / Monika Skolimowska
Holger Lengfeld im Gespräch mit Dieter Kassel |
Der Leipziger Soziologe Holger Lengfeld sieht bei der AfD noch erheblichen Forschungsbedarf. Die Partei gebe es erst seit vier Jahren und die Sozialwissenschaftler kämen angesichts der schnellen Veränderung kaum hinterher.
"Die Ergebnisse in Ostdeutschland haben auch mich überrascht", sagte der Soziologe Holger Lengfeld im Deutschlandfunk Kultur über die hohe Zustimmung der Wähler in den neuen Bundesländern für die AfD. Lengfeld widmet sich an der Universität Leipzig der Angstforschung und hatte kürzlich eine Studie über die AfD verfasst. Seiner Einschätzung nach hätten AfD-Wähler vor allem massive Kritik an der Flüchtlingspolitik der Bundesregierung. "Wenn es hier einen klaren Angstfaktor gibt, dann ist es aller Voraussicht nach die Angst davor, die eigene Identität, die gemeinsame kulturelle Identität des Deutschseins zu verlieren", sagte der Soziologe. Es liege ganz am Betrachter, was darunter verstanden werde.

Stabile Befunde brauchen Zeit

Lengfeld räumte ein, dass man in der Forschung noch nicht ausreichend viel über die AfD-Wähler wisse. Es müssten über viele Studien hinweg zunächst stabile Befunde aufgebaut werden. Die AfD gebe es erst seit vier Jahren und sie habe sich seither sehr stark gewandelt. "Die Partei ist in Bewegung, die Zusammensetzung ihrer Wählerschaft wird in Bewegung sein und wir kommen kaum so schnell hinterher herauszufinden, was die Leute denn tatsächlich wollen."

Das Interview im Wortlaut:

Dieter Kassel: Zwischen 18 und 22 Prozent der Wähler haben in Mecklenburg-Vorpommern, Thüringen, Sachsen-Anhalt und Brandenburg ihre Stimme am Sonntag der AfD gegeben. In Sachsen waren es 27 Prozent, damit wurde die Partei in diesem Bundesland sogar die stärkste Partei bei der Bundestagswahl.
Es ist aber inzwischen durchaus bekannt, auch Analysen und Wahlumfragen am Sonntagabend haben das noch mal bestätigt, dass es den Menschen, die in Ostdeutschland die AfD gewählt haben, nicht unbedingt wirtschaftlich deutlich schlechter geht als allen anderen. Auch die Abstiegsängste sind dort längst nicht so groß, wie lange Zeit behauptet wurde. Das zeigen auch zahlreiche Untersuchungen, unter anderem auch die von Holger Lengfeld. Er ist Angstforscher und Professor am Institut für Soziologie der Universität Leipzig. Herr Lengfeld, schönen guten Morgen!
Holger Lengfeld: Guten Morgen, Herr Kassel!
Kassel: Nun heißt es ja inzwischen sozusagen als Ersatzbegründung, nachdem das mit den Abstiegsängsten nicht mehr richtig funktioniert, die AfD ist eine Angstpartei. Ist denn das nun endlich wahr? Haben Menschen, die die AfD wählen, mehr Angst als andere?
Lengfeld: Das ist schwer zu sagen. Die Ergebnisse in Ostdeutschland haben auch mich überrascht. Was wir zum heutigen Zeitpunkt relativ sicher sagen können, ist, dass Menschen, die die AfD gewählt haben, vor allen Dingen massive Kritik an der Flüchtlingspolitik der Bundesregierung ausgeübt haben. Jetzt kann man sich ja fragen, was bedeutet das eigentlich, und wenn es hier einen klaren Angstfaktor gibt, dann ist es aller Voraussicht nach die Angst davor, die eigene Identität, die gemeinsame kulturelle Identität des Deutschseins, was genau man sich darunter vorstellt, liegt im Auge des Betrachters, aber diese zu verlieren, das ist eine der möglicherweise zentralen Erklärungen für diese ganz erstaunlich hohen Wahlergebnisse bei der AfD.

Unterschiedlicher Kontakt mit Migranten

Kassel: Aber da schließt natürlich logischerweise die Frage an, warum diese Angst des Deutschseins offenbar in Ostdeutschland größer ist als sagen wir mal in Nordrhein-Westfalen oder in Schleswig-Holstein.
Lengfeld: Da muss ich ein bisschen ausholen: Flüchtlingspolitik ist eingebettet – beziehungsweise Einstellungen zu Flüchtlingen sind ja eingebettet in bestimmte Vorstellungen darüber, was wir als Bürger für Vorstellungen von Gesellschaft haben. Also, was ist eine gute Gesellschaft? Und in Westdeutschland gibt es einen deutlich höheren Anteil von Menschen, die sagen, wir wollen eine offene, kosmopolitische Gesellschaft, eine, in der Menschen, die in Not sind, zu uns kommen können, aber auch eine, in der wir unterschiedliche Lebensweisen in der Gesellschaft anerkennen, bis hin zur Homo-Ehe. Das finden wir, und das sind die starken Vermutungen, derzeit in Ostdeutschland deutlich weniger.
Was die Frage der Identität angeht, weiß man aus der Forschung, dass Kontakt zu Migranten über einen längeren Zeitraum im Alltag die Einstellung zur Migration verändert. Die Menschen werden für uns normale Kontaktpartner, normale Umgangspartner, und dadurch bauen sich Ängste ab. Wenn Sie sich den Anteil der Personen mit Migrationshintergrund in Ostdeutschland anschauen, dann ist der deutlich niedriger als in Westdeutschland. Daran hat auch geschichtlich natürlich hat das eine große Rolle gespielt. Wir haben seit 1955 Anwerbeabkommen für die damals sogenannten Gastarbeiter in Westdeutschland gehabt. Der Anteil der Vertragsarbeiter in der DDR war viel geringer, und die Menschen waren häufig auch kaserniert, also in eigenen Wohnheimen, und hatten wenig Kontakt mit der Bevölkerung. Ich denke, das wirkt nach wie vor nach.
Kassel: Es ist in Ostdeutschland so, aber im Prinzip, wenn man die Zahlen in Relation setzt, in Westdeutschland in dem Punkt wirklich nicht viel anders, dass wesentlich mehr Männer die AfD gewählt haben als Frauen. Haben Sie dafür eine Begründung?
Lengfeld: Wir haben das in unseren Analysen auch schon gesehen, und wir haben unterschiedliche Umfragedaten ausgewertet, zum Teil auch, die wir selbst erhoben haben, wo wir genau sagen können, was die wert sind. Ich habe dafür, offen gesagt, keine klare Erklärung zum heutigen Zeitpunkt. Man könnte vermuten, dass Fragen von kollektiver Identität – die Personen machen sich ja nicht Sorgen, sozusagen ihre eigene Identität zu verlieren, sondern sie machen sich ja Sorgen um die Zukunft des Landes. Das muss man ja wirklich zugute halten und in Rechnung stellen.
Sie befürchten, dass eine Gesellschaft, die ihnen wichtig ist, von der sie glauben, dass es die richtige ist, dass die im Schwinden begriffen sei. Möglicherweise hat man da immer noch einen größeren Anteil von Männern, die ihre Sorgen nach außen tragen und dann im Wahlakt umsetzen. Aber so richtig überzeugt bin ich davon auch noch nicht so richtig. Wir haben hier erheblichen Forschungsbedarf.

Unterschiede zu den USA

Kassel: Darf ich Ihnen da mal als Laie eine Theorie präsentieren – und ich räume Ihnen jedes Recht ein, zu sagen, Herr Kassel, schön, aber auch totaler Quatsch. Ich habe dazu folgende Theorie: Wenn man sich auch die Wahlergebnisse genauer anguckt, sieht man zum Beispiel, die höchste Zustimmung findet die AfD bei den Männern zwischen 35 und 50. Darunter ist es deutlich geringer in Ostdeutschland, und darüber auch. Wenn wir jetzt mal über dieses Phänomen des alten weißen Mannes reden – so alt ist das noch nicht, aber jetzt schludern wir ein bisschen bei der Altersgruppe – der ist ja weltweit beunruhigt. Der hat uns ja auch Donald Trump beschert und viele andere Dinge.
Könnte es nicht einfach sein, dass eine bestimmte Männergruppe, die vielleicht tatsächlich in Ostdeutschland stark vertreten ist – viele Männer haben ja dieses Gebiet auch längst verlassen, und einige sind einfach übrig geblieben –, dass eine gewisse Männergruppe sich von den gesellschaftlichen Veränderungen – Sie haben gesagt, es geht ja auch um Dinge wie Homo-Ehe und vieles anderes – sich davon einfach stark bedroht fühlen in ihrer Identität?
Lengfeld: Also, kann die Dieter-Kassel-Theorie zutreffen, ist die Frage. Also, nein, ich bin nicht so richtig davon überzeugt. Jetzt muss man ein bisschen die Dinge auseinanderhalten. Diese These des alten weißen Mannes aus der Mittelschicht kommt ja aus den USA und ist ja in Zusammenhang mit der Trump-Wahl diskutiert worden. Da geht es ja auch um ökonomische Interessen. Also diese Männer waren ja vor allen Dingen beschäftigt in der Stahlindustrie, Kohlebergbau und Ähnliches, Dinge, die international in der Globalisierung ja an Bedeutung verloren haben. Eigentlich würden wir erwarten – also Ihre Beobachtung in Hinblick auf die Altersgruppe ist ja völlig korrekt, das sind so die mittelalten Männer, zu denen ich mich auch zählen würde.
Eigentlich würden wir erwarten, dass die älteren, also sozusagen, je älter, je früher das Geburtsalter ist, also je älter die Kohorte, desto größer sind diese Zukunftssorgen, weil die Leute unter ganz anderen Bedingungen aufgewachsen sind und noch ein Deutschland kennengelernt haben, dass eher jetzt diesen Idealvorstellungen mancher AfD-Wähler entspricht. Und genau das ist nicht der Fall. Es ist die mittlere Kohorte, und nicht die obere. Auch hier sehe ich Forschungsbedarf. Ich sage auch immer ganz klar, Forschung kann nicht alles aus der Glaskugel lesen. Wir brauchen differenzierte Analysen. Und da die AfD ein sehr neues Phänomen ist, wissen wir über die noch nicht so richtig viel, und über ihre Wählerschaft, und hier ist noch erhebliche Arbeit zu leisten.

Latenter Wertekonflikt

Kassel: Aber bei dem, was Sie schon wissen und was Sie schon erforscht haben – Sie haben sich ja sehr auf Ostdeutschland konzentriert, aber ich stelle mir natürlich auch die Frage, wenn wir uns Westdeutschland angucken, gibt es ja auch enorme geografische Unterschiede. Da ist es Nord und Süd. Man redet immer so viel über Bayern, aber in Baden-Württemberg haben fast genauso viele Menschen die AfD gewählt, nicht in absoluten Zahlen, aber was den Prozentwert angeht. Hamburg, Bremen, da sind so 7,8, 8 Prozent. Das kann ja auch nun wieder eindeutig nicht an der Wirtschaft liegen. Den Bremern geht es nun wirklich nicht besser als den Bayern. Haben Sie eine Erklärung für dieses Nord-Süd-Gefälle in Westdeutschland?
Lengfeld: Die Bundestagswahl, glaube ich, fand statt wirklich vor dem Hintergrund eines latenten Wertekonflikts in Deutschland, ich hatte das ja eingangs des Gesprächs schon mal angedeutet. Auf der einen Seite dieser Multikulturalismus, das ist ein Phänomen, das finden Sie in Großstädten sehr häufig bei jungen, gut ausgebildeten Menschen. Die sind da auch stark repräsentiert.
Und dann haben wir Menschen, die einem eher traditionellen Gesellschaftsbild verhaftet sind, also traditionellen Normen. Denken Sie an das Leben in der Familiengemeinschaft, Ehe, heterosexuelle Orientierung, der Partner, ein Kind oder zwei Kinder. Und das ist im Süden unserer Republik ja auch stärker ausgeprägt als im Norden, die Vorstellung, dass das eine gute Form von Gesellschaft ist. Und ich vermute, dass genau, weil diese Vorstellungen, diese eher traditionellen Rollenvorstellungen und traditionelle Vorstellungen über Gesellschaft, also wenig Multikulti, mehr an einem starken Staat orientierten Vorstellungen, dass die auch dazu führen, dass innerdeutsche Unterschiede zustande kommen.
Und ich füge hinzu, in den Stadtstaaten ist auch der Migrationsanteil viel höher. Also da greift wieder die von mir eingangs zitierte Kontakthypothese. Menschen haben mehr Austausch, und es ist für sie selbstverständlich, dass Migranten zum Arbeitsalltag, zum Leben mit dazu gehören, und deshalb wird die Zustimmung da zum Teil niedriger sein.

Partei in Bewegung

Kassel: Mich lässt dieses Gespräch, obwohl Sie doch an einigen Stellen sagen mussten, wir wissen es noch nicht genau, ehrlich gesagt gerade deshalb relativ zufrieden zurück, weil ich seit Monaten sehr konkrete Theorien immer über AfD-Wähler höre, wo man dann ein paar Wochen später sagen muss, so kann es eigentlich gar nicht sein. Und was ich jetzt aus unserem Gespräch mitnehme: Wir wissen, ich sag es mal so, wirklich verdammt viel über deren Motive im Grunde genommen immer noch schlichtweg nicht.
Lengfeld: Wir wissen nicht ausreichend viel. Sie müssen sich vorstellen, Forschung, auch sozialwissenschaftliche Forschung, da setzt man sich ja nicht hin, denkt mal ein halbes Jahr drüber natürlich nach oder wertet ein paar Umfragedaten aus, und dann hat man sozusagen die Weisheit mit Löffeln gefressen. Für uns ist wichtig, dass wir über viele, viele Studien hinweg stabile Befunde aufbauen. Und wenn die Studien mit unterschiedlichen Messinstrumenten bei gleichen Fragestellungen zum gleichen Ergebnis kommen, dann haben wir ein robustes Ergebnis.
Wie sollen wir das bei der AfD erzielen? Die gibt es ja erst seit vier Jahren, und die hat sich so gewandelt in der Zwischenzeit, das dürfen Sie nicht vergessen. Die Gründungsgeneration um Herrn Lucke herum hatte ja völlig andere Motive. Das heißt, dieses stark nationalistische, auf Flüchtlingsbegrenzung orientierte Profil, das wir heute haben, war damals nur am Rande mit angelegt. Das wird auch die Wählerschaft verändert haben. Das heißt, die Partei ist in Bewegung, ihre Zusammensetzung der Wählerschaft wird in Bewegung sein. Und wir kommen ja kaum so schnell hinterher, herauszufinden, was die Leute denn tatsächlich wollen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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