"Die Partei ist dem neoliberalen Zeitgeist nachgerannt"
Die SPD sollte zu ihren Wurzeln - Solidarität und soziale Gerechtigkeit - zurückkehren, findet der Politikwissenschaftler Christoph Butterwegge. Das bedeute, "für die Unterprivilegierten etwas zu tun" und den gesellschaftlichen Reichtum gerecht zu verteilen.
Lavieren, vernebeln, dem neoliberalen Zeitgeist hinterher rennen – das Urteil des Kölner Politikwissenschaftler Christoph Butterwegge zum derzeitigen Zustand der SPD fällt alles andere als positiv aus.
Um ihr Glaubwürdigkeitsproblem zu überwinden, müsse die immerhin 150 Jahre alte Traditionspartei sich auf ihre alten Werte besinnen - soziale Gerechtigkeit und Teilhabe für alle –, statt zu verkünden, wie etwa Peer Steinbrück, nur dem werde geholfen, der selbst auch Leistungen für die Gesellschaft erbringe. Butterwegge kritisiert:
"Und das heißt im Grunde der Bruch mit dem Sozialstaatsgebot unseres Grundgesetzes, denn natürlich haben die Väter und wenigen Mütter unserer Verfassung sich vorgestellt, dass sich der Staat vor allen Dingen um diejenigen kümmert, die aus dieser Sicht ökonomisch, neoliberal gefasst nicht Leistung erbringen, um Obdachlose, um total verelendete Drogenabhängige, um illegalisierte Migrantinnen und Migranten, also um Menschen, die auf der Schattenseite der Gesellschaft stehen."
Steinbrück und andere SPD-Politiker wollten jedoch im Grunde nur diejenigen besser stellen, denen es ohnehin besser gehe. Deutschland sei jedoch so reich, dass unsere Gesellschaft es sich leisten könne, für die aufzukommen, die dies aus eigener Kraft nicht könnten.
Das Interview im Wortlaut:
Nana Brink: Die SPD hat ein Glaubwürdigkeitsproblem. Das hat sie nicht allein als sogenannte Volkspartei, aber bei ihr ist es – geht man nach den Umfragewerten – doch ein sehr drängendes. Nur noch ein knappes Drittel der Bürger traut der SPD Lösungen in Fragen der sozialen Gerechtigkeit zu, deshalb hat Parteichef Sigmar Gabriel gestern zu einer Wertekonferenz Gerechtigkeit gerufen.
Er will den Begriff Chancengerechtigkeit wieder neu definieren, für die SPD neu definieren, das ist ja ein großes Schlagwort auch aller etablierten Parteien. Kommt man damit aus diesen schlechten Umfragewerten wieder raus? Christoph Butterwegge ist Professor für Politikwissenschaft an der Uni Köln, beschäftigt sich seit Langem mit dem Thema Armut und vor allen Dingen auch mit dem Thema Chancengerechtigkeit. Schönen guten Morgen!
Christoph Butterwegge: Ja, guten Morgen, Frau Brink!
Brink: Die SPD ringt ja um diesen Gerechtigkeitsbegriff. Eigentlich, ja, ziemlich absurd für eine Partei, die vor 150 Jahren ja genau mit diesen Begriffen, Gerechtigkeit und Solidarität groß geworden ist. Wie würden Sie Gerechtigkeit definieren für die SPD?
Butterwegge: Zunächst mal würde ich es vielleicht negativ fassen: Gerechtigkeit besteht dann nicht, wenn in einem Staat die Armut nicht wirksam bekämpft wird, wenn nicht dafür gesorgt wird, dass soziale Risiken für die Bürger abgefedert werden, und auch nicht, wenn sich die Kluft zwischen Arm und Reich immer weiter vertieft. Und daran müsste die SPD arbeiten. Sie ist allerdings dem neoliberalen Zeitgeist nachgerannt und hat aus meiner Sicht eine Deformation des Gerechtigkeitsverständnisses in unserer Gesellschaft mitbewirkt.
Soziale Gerechtigkeit nur für Leistungsträger?
Brink: Können Sie mir das noch mal genauer erklären: Wie sieht diese Deformation aus?
Butterwegge: Ja, auf der einen Seite wurde aus dem Grundwert Bedarfsgerechtigkeit – derjenige, der wenig hat, dem soll der Staat, der Sozialstaat helfen und viel geben –, wurde Leistungsgerechtigkeit.
Und ich will mal Peer Steinbrück zitieren aus dem Jahre 2003, da hat er soziale Gerechtigkeit definiert als eine Politik für jene zu machen, die etwas für die Zukunft unseres Landes tun, die lernen und sich qualifizieren, die arbeiten, die Kinder bekommen und erziehen, die etwas unternehmen und Arbeitsplätze schaffen. Kurzum: die Leistung für sich und unsere Gesellschaft erbringen. Um die, sagt Steinbrück, und nur um sie muss Politik sich kümmern.
Und das heißt im Grunde der Bruch mit dem Sozialstaatsgebot unseres Grundgesetzes, denn natürlich haben die Väter und wenigen Mütter unserer Verfassung sich vorgestellt, dass sich der Staat vor allen Dingen um diejenigen kümmert, die aus dieser Sicht ökonomisch, neoliberal gefasst nicht Leistung erbringen, um Obdachlose, um total verelendete Drogenabhängige, um illegalisierte Migrantinnen und Migranten, also um Menschen, die auf der Schattenseite der Gesellschaft stehen.
Steinbrück will jetzt – und auch die SPD und Gerhard Schröder haben das natürlich in der rot-grünen Regierungsphase praktiziert –, will im Grunde diejenigen besser stellen, denen es ohnehin besser geht.
Verteilungs- statt Chancengerechtigkeit
Brink: Nun hat Sigmar Gabriel ja gestern auch zugegeben, dass die SPD Fehler gemacht hat, sehr bemerkenswert in seiner Rede, und er hat ja auch aufgerufen, dann auch über diesen Begriff Chancengerechtigkeit mehr zu definieren. Ist das eher auch ein Modewort?
Butterwegge: Ja, das vernebelt im Grunde das, worum es gehen muss. Denn Chancengerechtigkeit bedeutet für mich, dass ich in einer Gruppe, meinetwegen in einer Klasse von Jugendlichen Lose verteile und ein Hauptgewinn ist da, derjenige, der diesen Hauptgewinn zieht, der gewinnt ganz viel und hat ein sorgenfreies Leben, aber alle anderen gehen leer aus. Dann habe ich ja Chancengerechtigkeit geschaffen, weil alle im Grunde die Chance hatten, dieses Los zu ziehen.
Es muss doch darum gehen, Verteilungsgerechtigkeit herzustellen, also nicht alle gleich zu machen, aber dafür zu sorgen, dass der gesellschaftliche Reichtum, der ja bei uns auch weiter wächst, dass der einigermaßen gerecht und gleich über die Gesellschaft verteilt wird. Stattdessen wird immer mehr auch in der SPD von Teilhabegerechtigkeit gesprochen. Das soll bedeuten, man will den Zugang zu Bildungsinstitutionen für Kinder schaffen und für Erwachsene den Zugang zum Arbeitsmarkt.
Aber das reicht doch nicht. Sondern ich muss doch dafür sorgen, dass dann auch weiterhin diejenigen, die sich vielleicht am Markt nicht so behaupten können, dass die bessergestellt werden und dass die Möglichkeiten haben, eben auch etwas vom gesellschaftlichen Reichtum abzubekommen.
Und ich finde es paradox: Verteilungsgerechtigkeit ist nötig deshalb in einer Zeit, wo der Reichtum so ungleich und ungerecht verteilt ist wie noch nie, und wo auch im Grunde das Geld so wichtig ist wie noch nie. Wenn Sie heute Weiterbildung zum Beispiel sich leisten wollen, müssen Sie Geld bezahlen; wenn Sie in ein Schwimmbad gehen wollen mit Ihren Kindern, in ein Spaßbad womöglich, müssen Sie viel Geld mitbringen.
Also ist doch das Geld wichtiger heute und man kann nicht so tun, als müsse der Staat nur noch für Teilhabegerechtigkeit sorgen.
Die Gesellschaft ist reich
Brink: Aber pardon, das klingt sehr gut und bestimmt ist das auch sehr im Sinne der SPD, die vielleicht wieder zurückkehren will zu ihren Wurzeln. Aber wer soll das bezahlen?
Butterwegge: Die Gesellschaft ist so reich, dass sie, glaube ich, durchaus dafür sorgen kann, durch Umverteilung von oben nach unten, dass alle Menschen mitgenommen werden, dass nicht ein immer breiterer Niedriglohnsektor entsteht auf der einen Seite.
Und auf der anderen Seite müssen aufgrund auch der Steuerpolitik der SPD die Erben von ganzen großen Konzernen keinen Euro betriebliche Erbschaftssteuer zahlen. Das kann es doch nicht sein! Da würde ich mir wünschen, dass die SPD wirklich zu ihren Wurzeln zurückkehrt und sich wieder besinnt auf ihre Grundwerte: Solidarität, soziale Gerechtigkeit, und zwar in dem Sinne, wie sie das am Anfang ihrer Parteigeschichte verstanden hat, eben vor allen Dingen für die Unterprivilegierten etwas zu tun.
Brink: Der Politikwissenschaftler Christoph Butterwegge, vielen Dank für das Gespräch hier bei uns in "Studio 9"!
Butterwegge: Bitte schön, Frau Brink!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.