Spotify, Apple Music und Co

Wie Streamingdienste die Kunst verändern

Spotify-Logo auf einem Smartphone
Im Spotify-Zeitalter hat das Intro ausgedient. © imago/xim.gs
Von Gregor Schmalzried |
Streamingdienste sammeln und werten die Daten ihrer Nutzer akribisch aus, um Empfehlungen für die User zu erstellen. Aber nicht nur das: Die Daten haben Auswirkungen darauf, wie Musiker und Produzenten neue Songs komponieren.
Ein bisschen schockt es mich schon, aber dieses Lied habe ich 2017 anscheinend öfter gehört als irgendein anderes: "So Fresh" von der schwedischen Pop-Band Death Team. Es steht an erster Stelle einer persönlichen Playlist, die der Musik-Streamingdienst Spotify mir zu jedem Jahresende erstellt. Darauf sind die 100 Titel, die ich im Jahr am meisten gehört habe.
Es ist eine Art Playlist-Kreislauf, denn viele der Songs, inklusive der Nummer 1, habe ich erst durch das Portal kennengelernt. Dafür sorgen die zahlreichen wöchentlich aktualisierten Playlists, die man mir aufs Handy schaufelt: Die sind genau danach organisiert, was der Algorithmus für meinen Musikgeschmack hält.
Das Empfehlungssystem von Plattformen wie Spotify, Deezer und Apple Music ist einfach erklärt: Alle Titel, die ich höre, werden automatisch analysiert und zu einem Hörerprofil umgewandelt. Dieses Profil wird dann mit anderen Nutzern verglichen – denn was anderen Hörern mit meinem Geschmack gefällt, gefällt vielleicht auch mir – und andersherum.

Spotify liefert die Nutzerdaten

Das Empfehlungs- und Analysesystem, das auf den Servern des Streaminganbieters läuft, ist für Außenstehende kaum durchschaubar, aber auf einen kleinen Teil davon habe ich Zugriff: auf meinen nämlich. Ich schicke also eine Anfrage an den Support und ein paar Wochen landet ein PDF-Dokument in meinem E-Mail-Postfach. Darin aufgelistet: Ein kompletter Überblick über meinen Musikkonsum und eine Menge große Zahlen:
Fünf Jahre
332 Seiten
31.167 gespielte Songs
Das ist meine Bilanz so weit. Jeder angehörte Titel hat eine eigene Zeile in der Tabelle und beim Überfliegen erkenne ich schnell, dass mein Musikgeschmack für den Algorithmus eine kleine Herausforderung sein muss. Da ist fluffiger Pop neben experimenteller Elektronik, Radiohead neben Taylor Swift, abends ein Album melancholische Klaviermusik, morgens leicht veralteter Deutschrap. Ich behalte da kaum selbst den Überblick, aber vielleicht fällt es dem Algorithmus leichter. Denn Spotify hat weit mehr Informationen zur Verfügung als nur, welche Songs ich gehört habe. Nämlich:
Zeit und Datum. IP-Adresse und Standort. Online oder Offlinestatus. Shufflemodus an oder aus. Betriebssystem und Gerät. Titel ausgespielt oder nicht. Kontext.

Die ersten Sekunden sind entscheidend

Besonders wichtig sind die letzten beiden Daten. Ob ein Titel ausgespielt wurde oder nicht, verrät nämlich genau bei welchen Songs ich vorzeitig ausgestiegen bin und welche mir bis zum Schluss gefallen haben. Ich erkenne, dass ich über die Hälfte meiner Songs nicht bis zum Ende schaffe. Und damit bin ich nicht allein. Spotify-Mitarbeiter Paul Lamere hat auf seinem Blog selbst eine kleine Studie dazu veröffentlicht – sein Ergebnis:
Ein Viertel aller Titel, die auf Spotify begonnen werden, wird in den ersten fünf Sekunden abgebrochen.
Und das wissen auch die Produzenten moderner Popmusik. Was zum Beispiel das hier erklärt:
Justin Biebers "Love Yourself" ist in den amerikanischen Billboard Charts der Nummer-Eins-Song des Jahres 2016. Und er beginnt direkt mit der Stimme des Sängers. Kein Intro, keine Zeit, in der der potenzielle Hörer sich langweilen und weiterskippen könnte. 20 Jahre vorher klang der Anfang des erfolgreichsten Lied des Jahres noch so:
"That's What Friends Are For" von Dionne Warwick genehmigt sich zu Beginn erst einmal 15 Sekunden Mundharmonika – heute undenkbar. Die Skip-Taste sitzt fest im Kopf des Produzenten verankert und ist für jede kreative Entscheidung mitverantwortlich. Denn jedes Mal, wenn jemand einen Titel in den ersten 30 Sekunden skipt, geht für den Künstler Geld verloren. Das verändert die Art, wie Musik geschrieben wird, wie auch eine Untersuchung der Ohio State University zeigt.

Der Tod des Intros

Mitte der 80er-Jahre war das durchschnittliche Pop-Intro 20 Sekunden lang. Heute fünf Sekunden.
Und nicht nur das Intro hat es in der Popmusik zur Zeit schwer. Auch das Format des Musikalbums ist in Gefahr. Denn das, was Spotify in der Spalte "Kontext" erfasst, verrät, ob ich einen Song als Teil eines Albums oder einer Playlist höre. Und Playlisten werden immer wichtiger. Um möglichst gut in ihnen vertreten zu sein, lohnen sich regelmäßige neue Singles oft mehr als ein Longplayer.
Viele große US-Bands wie The Chainsmokers oder OneRepublic setzen mittlerweile fast nur noch auf Singles und EPs – und selbst Death Team, meine eher kleine persönliche Nummer Eins 2017, hat trotz moderatem Streaming-Erfolg noch kein Debütalbum geplant.
Die Musikindustrie ist im Umbruch – wieder einmal. Nur habe ich jetzt das Gefühl, für diese neueste Entwicklung irgendwie mit meinen Daten selbst verantwortlich zu sein. Als Nutzer eines Streaming-Dienstes habe ich vielleicht tatsächlich eine Art Verantwortung – und sei es nur das zu hören, von dem ich will, dass es in Zukunft noch existiert.
Mehr zum Thema