Susanne Schädlich: "Briefe ohne Unterschrift. Wie eine BBC-Sendung die DDR herausforderte"
Knaus Verlag, 288 Seiten, 19,99 Euro
Wie eine BBC-Sendung die DDR herausforderte
In der Sendung "Briefe ohne Unterschrift" verlas die BBC anonyme Schreiben von DDR-Bürgern – Beschwerden über Mangelwirtschaft, Zensur, den sozialistischen Staat. Für die BBC ein Akt der freien Meinungsäußerung. Für die Stasi: Verrat. Susanne Schädlich hat die Geschichte der Sendung aufgeschrieben.
Noch bevor man die ersten Zeilen gelesen hat, bleibt der Blick am Vorsatzpapier dieses Buches hängen. Es besteht aus einer Collage von Briefen. Manche Handschriften sind kindlich rund, andere ganz steil und akkurat. Ein Brief handelt davon, dass es in mitteldeutschen Fischläden nur noch Makrelen gibt, nichts als Makrelen. Ein anderer beschwert sich darüber, dass man im Kreis Zeitz kein Westfernsehen mehr empfangen kann. Man liest das, halb erstaunt, halb amüsiert, und ist doch schon mittendrin in einer Geschichte, in der die Absurdität, die Paranoia und der Größenwahn der Deutschen Demokratischen Republik einmal mehr zum Ausdruck kommen. Dabei ist Susanne Schädlich eher zufällig an das Thema ihres Buches geraten: "Briefe ohne Unterschrift. Wie eine BBC-Sendung die DDR herausforderte". In den Unterlagen ihres Onkels, einem IM der Staatssicherheit, stößt sie auf englische Namen und Hinweise auf die BBC. Susanne Schädlich schreibt:
"Je mehr ich mich auf die Suche nach Antworten begab, desto mehr Fragen stellten sich. Je mehr ich suchte, desto mehr Antworten fand ich, vor allem in den Stasi-Akten. Zitat: Grundlage der Sendung bilden Hörerbriefe, die sowohl aus der DDR als auch anderen sozialistischen Ländern, Westdeutschland und Westberlin die BBC erreichen oder auch mit hoher Wahrscheinlichkeit frei erfunden sind."
Frei erfinden muss die BBC jedoch gar nichts. Jeden Freitagabend sendet sie in deutscher Sprache ein "Programm für Ostdeutschland", das ebenda eifrig gehört wird.
Anonyme Briefe, geschickt an eine Westberliner Deckadresse
45 Minuten lang werden anonyme Briefe verlesen, die DDR-Bürger an eine Westberliner Deckadresse geschickt haben. Ganze 233 Ordner umfasst die Sammlung der Zuschriften aus den Jahren 1955 bis 1975.
Für die Engländer ein Akt der freien Meinungsäußerung, für die Stasi ein Akt der Zersetzung und des Verrats. Engagiert und persönlich notiert Susanne Schädlich das Ergebnis ihrer akribischen Recherche zwischen Ost-Berlin und London und kommt sich dabei manchmal vor wie die von ihr geliebte Miss Marple.
"Schüler, Rentner, Studenten, Bauern, Lehrer, SEDler, NVAler, Hausfrauen, Arbeiter, Akademiker. Frauen und Männer. Aus Leipzig, Dresden, Berlin, dem Harz, Thüringen, Rostock, Greifswald. Aus allen Ecken der DDR. Von Ost nach West. Die Absender konnten nicht mit Sicherheit wissen, ob die Briefe den Empfänger erreichten, sie wussten nicht, ob der Empfänger daraus zitieren, sie vorlesen würde. Sie wussten nur, sie hatten geschrieben. Ich musste nur zuhören."
Zu den zahlreichen, oft berührenden, oft verstörenden, Zitaten aus den Briefen an die BBC fügt Susanne Schädlich Porträts der Beteiligten. Unter anderem folgt sie dem Redakteur Austin Harrison in sein Londoner Büro des "European Service" und sogar nach Leipzig, wo er sich in den Messetagen ein eigenes Bild von der realsozialistischen Wirklichkeit macht.
Dass die netten Ehepaare beim Abendessen im Ratskeller rein zufällig an seinem Tisch sitzen, darüber macht er sich keine Illusionen. "Briefe ohne Unterschrift" ist der Stasi ein massiver Dorn im Auge. Doch während sie dem Redakteur aus England nichts anhaben kann, erklärt sie die Absender der Briefe zu Staatsfeinden. Alle kriminalistischen Hebel werden in Bewegung gesetzt, um die anonymen Schreiber zu ermitteln.
Stasi versuchte intensiv, die Absender ausfindig zu machen
"Sichtbarmachen und Sichern latenter Fingerspuren / Vergleich der Fingerabdrücke / Papierartbestimmung / Vergleich von Schnittkanten / Blutgruppenbestimmung aus Speichel / Sichtbarmachen von Blindeindrücken / Bestimmung der verwendeten Farbsubstanz, des Klebstoffs / Vornahme eines Schriftvergleichs"
Zwei Fälle schildert Susanne Schädlich, in denen ein älterer Mann aus Leipzig und ein Schüler aus Greifswald wegen einiger Zeilen an die BBC überführt und verurteilt werden. Der 16-jährige Karl-Heinz Borchardt muss zwei Jahre in Haft, weil er seinem Herzen unter anderem mit diesen Worten Luft gemacht hatte:
"Ich bin noch Schüler und habe daher vielleicht nicht so den Durchblick, aber mich würde es doch interessieren, wie es kommt, dass dieser Staat sich so lange halten kann. Wenn man so mit den Leuten spricht, findet man doch kaum einen, der wirklich von diesem Staat begeistert ist. Ich kann mir diese Tatsache nur so erklären, dass dies nur auf die Angst der einzelnen Bürger zurückzuführen ist."
1974, die DDR ist mittlerweile zumindest formal auch von Großbritannien als eigenständiger Staat anerkannt, stellt die BBC die Sendung "Briefe ohne Unterschrift" ein. Den Wunsch Austin Harrisons, die vielen, an ihn gerichteten Briefe mögen eines Tages in Buchform erscheinen, hat Susanne Schädlich ihm posthum erfüllt. Und damit zugleich den Menschen ein Denkmal gesetzt, die in der DDR nicht aufgaben, selbstständig zu denken und das System in Frage zu stellen. Sei es auch nur in einem anonymen Brief an eine Radiosendung aus London.