Sven Regener

"Malen Sie ein Bild und es ist Kunst"

Sven Regener bei einer Lesung in Erfurt.
Sven Regener bei einer Lesung in Erfurt. © imago/VIADATA
Sven Regener im Gespräch mit Liane von Billerbeck |
Der neue Roman von Sven Regener "Wiener Straße" hat es gleich auf die Longlist für den Deutschen Buchpreis 2017 geschafft. Regener widmet sich darin dem Leben in Berlin-Kreuzberg der 80er-Jahre - und auch Frank Lehmann ist wieder dabei. Ein Gespräch über die Freiheit der Kunst.
Ein Held des neuen Romans "Wiener Straße" ist wieder Frank Lehmann, den Stammleser aus früheren Werken des Schriftstellers Sven Regener kennen. Die Handlung schließt direkt an das Geschehen im Buch "Der kleine Bruder" an. Frank Lehmann zieht im November 1980 mit seiner rebellischen Berufsnichte und zwei Künstlern in eine Wohnung über dem Café Einfall in Berlin-Kreuzberg. Österreichische Aktionskünstler, ein Fernsehteam und ein ehemaliger Intimfriseurladen stehen im Mittelpunkt des Geschehens, das in dem Roman das Leben vor dem Mauerfall wieder aufleben lässt. Die wahre Hauptfigur ist aber die Kunst.

Großartige Dreistigkeit

Von einer "Explosion der Arten", die man in Berlin-Kreuzberg habe beobachten können, spricht Regener im Deutschlandfunk Kultur. Es habe eine Entakademisierung der Kunst gegeben und jeder habe mitmachen können. "Malen Sie ein Bild und es ist Kunst", sagte Regener. Ob es später verkauft werde, ob man damit Karriere mache oder ein großer Künstler werde, sei egal.
"Wenn jemand ein Bild malt, hat er ein Kunstwerk geschaffen." Eine solche Haltung habe eine "großartige Dreistigkeit", sagte er und erinnerte als Beispiel an den Installationskünstler Martin Kippenberger. "Es gab unendlich viele Künstler und viele davon haben es weit gebracht." (gem)

Das Interview im Wortlaut:

Liane von Billerbeck: Herr Lehmann ist wieder da! Das allen Fans, die es tatsächlich noch nicht mitbekommen haben sollten, als Ankündigung. Denn Sven Regener hat sein neues Buch geschrieben, "Wiener Straße" heißt es, und dieses Buch aus dem "Herr Lehmann"-Kosmos hat es bereits auf die Long List zum Deutschen Buchpreis geschafft.
Ob auch auf die Short List, das werden wir nächste Woche erfahren, und wir wollen ja nicht einfach über das Buch reden, das wäre ja langweilig, sondern über ein Thema darin, nämlich über Kunst. Mit Sven Regener, der ist ja bekanntlich nicht nur Schauspieler, sondern auch Musiker, Gründer und Sänger der Band Element of Crime, und hat auch die Drehbücher geschrieben für alle drei bisherigen "Herr Lehmann"-Verfilmungen. Sven Regener ist bei mir zu Gast, schön, dass Sie da sind!
Sven Regener: Ja, freu mich auch!
von Billerbeck: Wenn wir auf Ihr Buch gucken, Frank Lehmann kommt natürlich wieder drin vor, aber diesmal ist er nicht die Hauptfigur. Es gibt da ganz verschiedene parallele Handlungsstränge und in manchen spielt er gar keine Rolle. Dafür kommt was anderes ganz oft vor, in diesem Buch geht es eigentlich ständig um Kunst. Könnte man sagen, die Kunst ist mindestens eine, wenn nicht sogar die wahre Hauptfigur in der "Wiener Straße"?
Regener: Ja, das war eigentlich schon ein bisschen bei "Der kleine Bruder" so, dem Roman, an den das von der Handlung ja direkt eigentlich anschließt. Da war das auch schon so, weil er seinen Bruder suchte und der ja auch Künstler war und so, und nachzuspüren, was der eigentlich gemacht hat und so, dass es immer mehr in dieses Kunstthema reinkam. Und hier, muss ich sagen, hier nimmt das voll Fahrt auf, das kann man so sagen, ja.

Kunst als Lebensstil

von Billerbeck: Die Künstlerfiguren im Buch, also Lehmanns Mitbewohner Karl Schmidt und H.R. Ledigt, die sich als Künstler begreifen und eine Gruppe um den Spiritus rector namens P. Immel, die mit anderen mittellosen Hausbesetzer- Künstlergruppen konkurrieren, die sind jetzt alle keine so richtig arrivierten oder besonders engagierten, planvollen Künstler, sondern eher so liebenswürdige freakige Dilettanten, die da so herumkünstlern und ihr Geld mit Nebenjobs, ein bisschen Chuzpe und ziemlich viel Glück verdienen.
Die erarbeiten sich nichts, wie man sich das vielleicht vorstellt, da wird der verbrannte Kuchen spontan zur Kunst erklärt und ein Baum mit der Motorsäge umgenietet, weil man den im Baumarkt einfach cool fand. Also, eigentlich hat man da das Gefühl, es geht um Kunst eher als Lebensstil in diesem 80er-Jahre-Kreuzberg als jetzt um Kunst im Sinne von "wir erstellen jetzt mal ein Werk". Erzählen Sie bitte: Was war das für ein Kosmos, diese Künstlerszene der 80er-Jahre in Berlin-West, in Kreuzberg und Schöneberg? Was machte die so besonders, für alle, die sich gar nicht mehr daran erinnern können?
Regener: Ja, ich sehe das auch anders als Sie, ich finde, genau das wird hier getan, hier werden Werke geschaffen. Und das wird nicht gemacht mit einer akademischen Rechtfertigung, man sagt nicht: Ich war auf der Akademie, ich habe einen Schein vom Staat, und darum bin ich Künstler. Sondern da hat genau das stattgefunden Ende der 70er-Jahre, was wahrscheinlich auch nötig war, um so was wie die Explosion der Arten, die man da beobachten konnte, wo sozusagen das in der Kunst passiert, alles sich noch mal unglaublich vervielfältigte, möglich zu machen. Nämlich letztendlich durch die ganze Punkrock-Geschichte eine Entakademisierung dieser ganzen Sache, dass man plötzlich sagt: Moment, diese Art von Kunst … Jeder kann da mitmachen!
Und es ist ja auch so: Malen Sie ein Bild, dann ist es Kunst! Ob Sie das jetzt verkaufen können, ob Sie damit eine Karriere machen, ob Sie dann als große Künstlerin … Es ist egal! Wenn jemand ein Bild malt, hat er ein Kunstwerk geschaffen. Und das ist diese Haltung natürlich, Sie nennen das Chuzpe, da ist auch so was, das hat auch was davon, das hat auch eine großartige, wie soll ich sagen, Dreistigkeit, aber es ist auch … Das merkt man auch, das bedeutet diesen Leuten auch sehr viel.
Das war die Zeit, indem man zum Beispiel Martin Kippenberger … Hat damals das SO36 Ende der 70er-Jahre geleitet oder mitorganisiert und hat diese ganzen Sachen gemacht, es gab unendlich viele Künstler und viele davon haben es auch weit gebracht. Performancekunst, diese ganzen Sachen, das wurde alles sozusagen plötzlich gemacht, mit so einem Drang, es einfach zu tun und ohne danach zu fragen, ob man damit eben Karriere machen kann, arriviert ist. Dass man da vielleicht insgeheim trotzdem drauf schielt, ist eine andere Geschichte, und das schafft ja auch viel von der Komik in diesem Buch.

Das war eine andere Zeit

von Billerbeck: Trotzdem spielt das Ganze ja in so einem abgeschlossenen Gebiet, das Westberlin vor dem Mauerfall. Hätten solche Figuren heute eigentlich noch ein, Chance, in diesem wiedervereinigten Berlin mit all den Hipstern, mit den Alteingesessenen, Zugezogenen und Touristen?
Regener: Das weiß ich nicht. Es gab ja auch in Westberlin sehr viele Touristen, das dürfen Sie nicht vergessen. Das war eine andere Zeit. Das war bis 85 ungefähr, dieser Effekt, den ich beschreibe. Sozusagen die Befreiung dieser ganzen Sache, von dem akademischen Zwang sozusagen, wirkte so ungefähr bis 85, habe ich das Gefühl gehabt. Da ging sehr viel darnieder und die Sache sozusagen hat sich anders entwickelt.
Das war eigentlich in allen Richtungen so, in der Musik, in der Performance und so weiter. Nur wenige haben dann auch tatsächlich überlebt. Und was ich auch ganz interessant finde, dieses "B-Movie" zum Beispiel von Mark Reeder, sehr guter Film über diese Zeit, wo er auch einfach zeigt, welche Haltung und welcher Aufbruchsgeist da war. Und so was hält sich immer nur eine bestimmte Zeit, so wie in den 60er-Jahren im Greenwich Village, was weiß ich, Folk-Musik hat ja ihre Zeit, und irgendwann war es dann auch vorbei.
von Billerbeck: Es gibt eine Szene in dem Buch, da spielt ja auch ein zynischer ZDF-Reporter eine Rolle, André Prohaska, dessen Berichtsgebiet ist eben die Hausbesetzerszene und davon gibt es in der Zeit teilweise wenig Neues. Und das Neue brauchen aber die Medien und nun dreht der für seine Reportage bei der selbsternannten Hausbesetzerkünstlergruppe ArschArt Galerie um P. Immel und da entsteht plötzlich so eine Art Slapstick-Szene, in der die ArschArt-Künstler einen der ihren mit Seil und Menschenkette auf ganz melodramatische Art vom Hausdach retten und danach gerührt in Heimwehgesänge verfallen. Und dieser abgebrühte Reporter stellt dann plötzlich erstaunt fest, dass diese unfreiwillige Choreografie, die die da aufführen, ihn extrem berührt und in seinen Augen tatsächlich etwas ist, das er den Leuten gar nicht zugetraut hat. Also wirklich gescheite Aktionskunst, in Anführungsstrichen. Wie viel hat Kunst für Sie mit dem Moment zu tun, mit der Absicht oder mit etwas ganz anderem?
Regener: Ja, das ist ein schwieriges Wechselverhältnis. Ich meine, es ist letztendlich so, dass man natürlich immer in der Kunst weiterkommt, wenn man auch so eine gewisse ästhetische Grundvorstellung hat von dem, was man machen möchte. Aber die kann sich in ihrer konkreten Ausformung auch sehr spontan sozusagen herstellen, und das ist das, was da passiert. Das sind wieder Aktionskünstler quasi, so sehen sie sich, aber im Exil! Wien war wahrscheinlich einfach …

Das Wesen der Kunst

von Billerbeck: Otto Muehl reloaded!
Regener: Ja, Wien war wahrscheinlich einfach zu klein für sie und Otto Muehl. Also, sie sind da in Westberlin, haben sehr viel Heimweh, dieser ZDF-Reporter entpuppt sich auch als Österreicher und ist dann … kann natürlich überhaupt nicht wissen, was da eigentlich passiert: Wird er eigentlich jetzt veräppelt, nehmen die ihn auf den Arm, ist das wirklich ernst, dass sie … diese großen Höhenangstprobleme, haben die das vorher geplant? Und am Ende ist er gerührt, weil er feststellt, dass es eigentlich egal ist, weil, in dem, was sie da machen, wie sie sich da inszenieren, zeigt sich für ihn – und das versteht er sehr gut –, dass es wirklich große Wiener Aktionskünstler sind. Und das ist ein glücklicher Moment.
Und ich lasse das auch offen als Autor, ob das jetzt wirklich geplant war oder nicht. Wahrscheinlich ist es spontan entstanden und immer wilder und verrückter geworden, weil diese Leute eben auch so drauf sind, die können das eben auch. Und das ist, was man nicht vergessen darf: In der Kunst kommt es nicht darauf an, dass man sozusagen … dass das jedem gefällt, was man macht, oder dass man etwas Intelligentes macht oder so oder dass es irgendwie große Folgen hat, sondern es kommt zunächst mal darauf an, dass man es überhaupt tut. Das ist das, was Künstler letztendlich nach vorne bringt. Die haben da nicht viel von, wahrscheinlich wird er das für seinen Bericht auch nie benutzen oder so, die sind sich ja nicht mal sicher, ob die Kamera wirklich läuft.
Aber Tatsache ist, dass sie einfach jetzt diese Aktion machen müssen und danach ist die Welt eine andere für sie. Und das ist, glaube ich, eine ganz wichtige Funktion von Kunst, die man einfach nicht aus dem Auge verlieren darf. Wir haben so oft die Angewohnheit, Kunst nur noch als Mittel zum Zweck für was anderes zu sehen, therapeutische Zwecke, politische Zwecke, Bildungszwecke und so weiter. Und das ist ja alles schön und gut, aber letztendlich trifft es das Wesen der Sache natürlich gar nicht. Weil, das geht auch ohne all das und das sind alles höchstens Nebenwirkungen, die den eigentlichen Kernbereich der Kunst nämlich gar nicht berühren.

Distanz zum eigenen Selbst

von Billerbeck: Sie haben – in der "Berliner Zeitung", glaube ich, war das – in einem Interview gesagt: Durch Kunst sind wir in der Lage, uns mit unserer eigenen Existenz zu versöhnen. Gibt es denn etwas, das Kunst uns generell lehrt? Oder ist Ihnen das zu viel Volkshochschule?
Regener: Ja, generell eben nicht. Ich glaube, Kunst gibt uns einen anderen Blick auf uns selbst, schafft Distanz zur eigenen Existenz. Es gibt andere Dinge, die auch dafür da sind, uns damit zu versöhnen, dass wir sterblich sind, und damit eigentlich nicht klarkommen. Sachen wie, was weiß ich, Drogen, Religion, aber eben auch Kunst. Humor ist auch so was. Wo man Distanz schafft zum eigenen Selbst. Und das ist … Seit der erste Höhlenmensch angefangen hat, diese Bisonjagd oder was auf die Wand zu malen, da sieht man plötzlich diese Menschchen wie ein Gott sozusagen von oben oder aus der Ferne.
Und in dem Moment hat man sich sozusagen … stellt man sich über sie und neben sie, und damit auch neben und über sich selbst. Und das ist natürlich ein toller Effekt und das ist das, was letztendlich Kunst so lebensnotwendig macht. Und nicht dass sie uns schlauer macht, zu besseren Menschen macht. Letztendlich macht sie, wenn sie funktioniert, uns zu glücklicheren Menschen, und das ist eine nicht zu unterschätzende Funktion. Wer möchte darauf verzichten?
von Billerbeck: Sven Regener war mein Gast. Sein neues Buch "Wiener Straße" ist gerade erschienen, steht auf der Long List zum Deutschen Buchpreis. Und wenn Sie schon mal einen Film sehen wollen, der auch mit dieser Zeit zu tun hat und in dem eine Regener‘sche Nebenfigur die Hauptrolle spielt, schon erwähnt eben im Gespräch, dann können Sie ins Kino gehen, da gibt es "Magical Mystery", Verfilmung des Buches über die "Herr Lehmann"-Nebenfigur Karl Schmidt. Und das Buch können Sie natürlich auch lesen! Sven Regener war mein Gast, besten Dank fürs Kommen!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

Sven Regener: Wiener Straße
Galiani Verlag
18,99 Euro.

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