Gastfreundschaft am Limit
Jordanien hat schon viel geholfen: Nach dem Zweiten Weltkrieg kamen rund 800.000 vertriebene Palästinenser, nach den Golfkriegen etwa 300.000 Iraker und zuletzt mindestens 650.000 Syrer. Neben Hilfsbereitschaft gibt es auch Neid, Wut und Ausbeutung.
Al Azraq in Jordanien: Auf den ersten Blick eine unscheinbare Kleinstadt inmitten trostlos grauer Wüste. Doch die Oase ist seit jeher von großer strategischer Bedeutung. Im Wüstenschloss von Al Azraq hatte vor 100 Jahren schon Lawrence von Arabien seine Hauptquartier.
Heute starten von Al Azraq die Kampfjets der internationalen Koalition gegen die IS-Terrormiliz in Richtung Syrien und Irak.
Die "Muwaffaq Salti Air Base" ist der Stützpunkt der königlichen jordanischen Luftwaffe – und künftig auch Standort der deutschen Bundeswehr.
Gemeindezentrum für Flüchtlinge
Am Stadtrand von Al Azraq, hinter einem hohen Maschendrahtzaun, versuchen syrische Flüchtlingskinder unterdessen, Krieg und Terror zu vergessen.
Khaled, ein junger Mitarbeiter der Hilfsorganisation CARE, hilft ihnen dabei. Er schart zusammen mit seinem Kollegen Mohamed die Mädchen und Jungen mit Sing-Spielen um sich.
"Den Kindern tut es so gut, zu singen. Es holt sie aus ihrem Alltag. Da können sie mal abschalten. Die psychosoziale Betreuung ist der Schwerpunkt unserer Arbeit hier. Wir helfen auch den Eltern, wie sie sich ihren Kindern besser mitteilen können."
Mohamed und Khaled arbeiten zusammen mit acht anderen Sozialarbeitern im sogenannten "Community Service Center" von Al Azraq, eine Art Gemeindezentrum für Flüchtlinge in der Kleinstadt. Es wird von CARE und dem UN-Flüchtlingshilfswerk betrieben.
Neben dem Gebäude stehen drei Container, die als Behelfsräume dienen. Die jordanischen Mitarbeiter haben sie zusammen mit den Kindern liebevoll bunt angemalt.
Im Inneren sind kleine Bücherei und Klassenräume für die Hausaufgaben-Hilfe untergebracht, erklärt CARE-Sprecherin Sarah Rashdan.
"Im städtischen Raum haben wir fünf solcher Zentren in Jordanien. Zusätzlich haben wir noch eines im Flüchtingscamp von Al Azraq. Allein dort leben derzeit 56.000 Menschen."
Die meisten Syrer leben nicht in Camps
Das Camp neben der eigentlichen Stadt entstand 2014. Auch um das noch größere Flüchtlingslager Zaatari im Nordosten Jordaniens – wo etwa 80.000 Menschen leben - zu entlasten.
"Aber: 82 Prozent der Flüchtlinge in Jordanien leben in Städten, nicht in den großen Camps. Die Gemeindezentren sind ein Treffpunkt, an dem die Syrer unsere Hilfsangebote in Anspruch nehmen können. Wir klären sie zum Beispiel über den jordanische Alltag auf, betreuen ihren Fall bei Behörden. Im Rahmen unseres Winter-Hilfsprogramms verteilen wir auch Heizungen, Gaszylinder, Decken und Matratzen. In besonderen Härtefällen versorgen wir die Flüchtlinge auch mit Überbrückungsgeld. Und: Wir bieten Ihnen einen sicheren Platz für ihre Kinder."
Täglich kommen bis zu 250 syrische Jungen und Mädchen zum Gemeindezentrum, berichtet Sarah Rashdan von CARE. Unter ihnen ist auch die zwölfjährige Naram. Sie ist vor vier Jahren mit ihren Eltern und ihren drei Geschwistern nach Jordanien geflohen.
"Als ich aus Syrien kam, war ich traurig. Und ich hatte immer noch Angst. Unser Haus in Syrien stand zum Glück noch, als wir weg mussten, aber die meisten Häuser waren zertrümmert. Da sind Raketen drauf geflogen. Als ich nach Jordanien kam, durfte ich erst zwei Jahre lang nicht zur Schule gehen, weil wir nicht registriert waren. Da hatte ich auch keine Freundinnen. Aber seit ich zur Schule kann und seit ich hierher ins Gemeindezentrum komme, hab ich wieder mehr Spaß und jetzt geht´s wieder."
Kinder müssen Geld verdienen
Dass Flüchtlingskinder wie Naram zur Schule gehen, ist durchaus nicht selbstverständlich. Auch wenn ein Großteil der jordanischen Schulen inzwischen in Doppelschichten arbeiten, damit vormittags und nachmittags Kinder unterrichtet werden können, schicken manche Syrer ihren Nachwuchs stattdessen aus schierer Not zum Geld verdienen.
Sarah Rashdan erzählt das Beispiel von der 11-jährigen Roslat, die in einem Friseursalon gearbeitet hat. Für umgerechnet 1,20 Euro am Tag musste das Mädchen dort den Boden fegen. Mit Hilfe eines speziellen Ausbildungsprogramms versuche man diese Kinderarbeit zu reduzieren.
"Dabei handeln wir mit den Eltern aus, dass sie die Kinder zur Schule schicken statt zur Arbeit. Den Lohn, der dann wegfällt, bezahlen wir. Inzwischen sind es tausend syrische Kinder, die auf diese Weise wieder zur Schule gehen."
Auch Roslat konnte so den Friseursalon verlassen. Sie hat jetzt eines der besten Zeugnisse ihrer Klasse, berichtet die jordanische Sozialarbeiterin. Sie ist sichtlich stolz auf ihre syrischen Schützlinge. Und auch auf ihr Land, das diesen Kindern wieder ein sicheres Zuhause und neue Chancen bieten kann.
"Die Krise geht jetzt ins siebte Jahr. Ich glaube, das Jordanien eines der Länder weltweit war, die am meisten Hilfsbereitschaft gezeigt haben. Manche Jordanier regt das auf. Manche denken, die Syrer nehmen uns die Arbeit weg. Aber laut Gesetz geht immer ein Teil der Hilfe, die für Syrer bestimmt ist, in gleichen Teil auch an die Jordanier, die selbst unter schwierigen Bedingungen leben. Wir versuchen wirklich so fair wie möglich zu sein. Ich meine: Wir machen das großartig."
Junge Jordanier klagen: Nur Jobs für wenig Geld
Mohamed sieht das ganz anders.
Er habe noch nie von jemandem Unterstützung bekommen, klagt der junge Jordanier. Nach verschiedenen Jobs in Cafés arbeitet der 25-Jährige zur Zeit in Amman als Fahrer für "Uber" - dem Online-Dienst für Personenbeförderung. Der Milliarden-Konzern aus den USA ist auch in der jordanischen Hauptstadt ein Alternativangebot zu den örtlichen Taxis.
"Es gibt sonst nicht viel Arbeit. Wenn man die Leute fragt, sagen sie: Da sind doch genug freie Arbeitsplätze. Ja, das ist wahr, aber das sind Jobs, bei denen man nur 200 Dinar im Monat verdient. Wenn man dann noch mit den öffentlichen Verkehrsmitteln zur Arbeit muss und etwas zu essen kauft, ist das Geld schon alle. Dann sitzt man zu Hause, isst und Schluss. 80 Prozent meiner Freunde haben keinen Job. Und die, die einen haben – für wenig Geld, machen ihn nur, damit sie nicht zu Hause herumsitzen."
Aus Mohamed spricht der Frust der jordanischen Jugend. Die Wirtschaft des kleinen Königreiches ist chronisch angeschlagen.
Das fast nur aus Wüste bestehende Land hat nichts, woraus es Wohlstand schaffen könnte: Es gibt kaum Rohstoffe. Das Trinkwasser ist knapp. Der Handel ist kollabiert, weil über die vergangenen Jahre der Grenzverkehr zu den Nachbarstaaten immer weiter eingeschränkt werden musste.
Inzwischen sind über 30 Prozent von Mohameds Altersgenossen arbeitslos. Selbst der jordanische König Abdullah, trotz gewähltem Parlament de facto Alleinherrscher im Land, erklärte dazu in einem Interview: Wenn ihm "nachts etwas den Schlaf raube", dann die Frage, wie er "der jungen Generation Chancen im Leben eröffnen könne". Mohamed glaubt die Ursachen für die Misere zu kennen:
"Wenn die Syrer hierher kommen, dann werden ihnen Jobs angeboten, bei denen sie monatlich 180 Dinar bekommen. Uns als Jordaniern wurden diese Jobs früher für 250 oder 300 Dinar angeboten. Aber jetzt werden nur noch diese 180 bezahlt. Entweder akzeptieren wir das oder lassen es bleiben. Es gibt ja die Syrer."
Mohamed rutscht unruhig auf seinem Fahrersitz hin und her. Er will nicht missverstanden werden.
"Es tut mir auch leid, was mit den Syrern passiert ist. Ihr Land ist kaputt. Aber man kann nicht nur den Syrern alle Arbeitsplätze anbieten und für die jordanischen Bürger bleibt nichts."
Viele Jordanier haben Fluchtgeschichte
Auf Nachfrage stellt sich überraschend heraus, dass Mohamed selbst auch aus einer Flüchtlingsfamilie stammt. Aber das sei "etwas ganz anderes", meint der junge Mann lapidar.
"Ich bin ursprünglich Palästinenser, aber ich bin Jordanien geboren und lebe seither in Jordanien."
Mohameds Großvater ist einst aus dem Westjordanland geflohen. Nach der Gründung Israels 1948 und nach dem Sechs-Tage-Krieg 1967 wurden insgesamt 800.000 Palästinenser nach Jordanien vertrieben. Und mit jeder Krise in der Heimat kamen neue Übersiedler. Mittlerweile hat die Hälfte der Einwohner Jordaniens eine palästinensische Herkunft. Sogar die Frau des Herrschers, Königin Rania, ist gebürtige Palästinenserin.
"Man muss auch sagen, dass viele Jordanier palästinensischen Ursprungs dazu neigen, dass zu vergessen, dass sie einen ähnlichen Hintergrund haben und wenig Verständnis zeigen."
Anja Wehler-Schoeck leitete bis zum Sommer das Büro der Friedrich-Ebert-Stiftung in Amman. Die Politikwissenschaftlerin beobachtete so über Jahre aus nächster Nähe, wie der jordanische Staat und seine Bewohner mit den Bürgerkriegsflüchtlingen aus dem syrischen Nachbarstaat umgeht. Ähnlich wie die Sozialarbeiterin in Al Azraq zollt Anja Wehler-Schoeck dem kleinen Königreich mit Blick auf die große Menge der Zuwanderer vor allem Respekt. Auch wenn Jordanien seine Grenzen zu vor anderthalb Jahren geschlossen hat.
"Aber die Höchstzahl der registrierten Flüchtlinge ist bei 670.000 gewesen und es ist auch davon auszugehen, dass die Großzahl der Flüchtlinge sich hier registriert hat, weil daran nämlich Leistungen jeglicher Art geknüpft waren. Dass die Regierung gelegentlich die Zahl eine Millionen Syrer nennt, kann darauf zurück geführt werden, dass vor dem Krieg bereits viele Syrer hier lebten, viele Geschäftsleute hier waren, viele Verwandtschaftsverhältnisse hatten."
Flüchtlinge waren kein Wahlkampfthema
Doch für Jordanien zählt jeder einzelne. Das Königreich ist stark abhängig von den Hilfsgeldern der internationalen Gemeinschaft, die entsprechend berechnet werden, aber nur schleppend fließen, wie die Regierung in Amman immer wieder beklagt. Die jordanische Statistikbehörde betont, dass bei 9,5 Millionen Menschen im Land leben. Drei Millionen seien Ausländer, Gastarbeiter und eben die Flüchtlinge.
"Aber man muss sagen, dass sich die jordanische Regierung sehr stark darum bemüht, dass es kein Klima des Hasses hier gibt. Also wir haben wenige gewalttätige Übergriffe zwischen Jordaniern und Syrern. Es war auch sehr interessant während der letzten Wahlen, den Parlamentswahlen im September 2016, dass es klar war, bei allen politischen Kräften, dass das Thema Flüchtlinge nicht angelangt wird. Also man konnte keinen Wahlkampf gegen oder auch nur über Flüchtlinge machen."
Das war allerdings eine staatliche Vorgabe, betont Anja Wehler-Schoeck. Dass gleichwohl immer mehr Jordanier argwöhnisch auf die syrischen Flüchtlinge in ihrem Land blicken, bestätigt sie.
"Teilweise ist das in den Communities vor Ort so, dass Flüchtlingsfamilie ein gesichertes Grundeinkommen haben, während die jordanischen Familien auch aus ärmlichen Verhältnissen kommen und ums Überleben kämpfen. Es gibt diese Situationen, wo sich jordanische Familien zu Recht ungerecht behandelt fühlen, weil für die Flüchtlingsfamilien andere Sicherheitsmechanismen eingerichtet wurden. Aber wir sehen leider auch, dass viele Vermieter erbärmliche Wohnungen zu horrenden Preisen an Flüchtlingsfamilien vermieten und diese Situation auch ausnutzen. Und der Kampf auf dem Arbeitsmarkt: Da geht es darum, dass in gewisser Weise Lohndumping stattfindet, weil Syrer verzweifelt auf der Suche sind nach Arbeit und dann eben bereit sind, für einen niedrigeren Lohn zu arbeiten."
Und häufig auch illegal, ohne Arbeitserlaubnis. Was den jordanischen Arbeitgebern wiederum die Sozialabgaben erspart und die Pflicht, ihr Wort zu halten, erzählt der junge Syrer Quais.
"Ich habe mal bei einem Elektriker gearbeitet. Die Auftraggeber haben ihm gutes Geld bezahlt. Aber der Elektriker hat mir am Ende meinen Lohn nicht gegeben. Er meint: Bitte, wir können ja zusammen zur Polizei gehen. Die sagen dir dann: Du arbeitest hier doch illegal und schicken dich zurück nach Syrien."
Es gibt Ausbeutung von Syrern
Quais lernt zusammen mit Omar, einem syrischen Studenten, am im Goethe-Institut in Amman Deutsch.
Eine Option für die Zukunft, hoffen die beiden. Omar hat sich bereits erfolgreich für ein Stipendium des Deutschen Akademischen Austauschdienstes beworben, mit dem er in Jordanien den Master seines Wirtschaftsstudiengangs machen will und danach – wenn es geht – seinen Doktor.
Den Krieg in Syrien versucht er zu vergessen, sagt der 28-Jährige leise. Er hat zwei seiner Brüder verloren: Einer starb bei einem Bombenangriff. Der zweite wurde vor seinen Augen erschossen. Seine Familie musste fliehen, erklärt Omar. Aber freundlich aufgenommen fühlt er sich in Jordanien nur bedingt.
"In den jordanischen Medien wird immer gesagt, dass sie alles tun, dass sie helfen. Aber das ist kein realistisches Bild. Sie helfen uns viel, dem syrischen Volk. Die syrischen Kinder wurden in die Schulen aufgenommen, ja... Aber es gibt eben diese Art der Ausbeutung."
Und da ist noch etwas, was die beiden Syrer wütend macht: Der Umgang einiger Jordanier mit den syrischen Frauen.
"Syrische Mädchen und Frauen werden auf der Straße sexuell bedrängt, weil manche behaupten: Die sind alle von der gleichen Sorte. Und diese Sorte kann man auf der Straße belästigen."
"Jordanier heiraten jetzt Syrerinnen"
Zurück zu Mohamed - dem jordanischen Uber-Fahrer mit palästinensischen Wurzeln - Er befördert natürlich auch oft Frauen von einem Ort zum anderen. Auch Syrerinnen. Respekt ist dabei für ihn Ehrensache. Der junge Jordanier ist ausgesprochen höflich und geniert sich fast ein bisschen, als irgendwann auch das Gespräch darauf kommt, welche privaten Zukunftspläne er trotz seiner wirtschaftlich schwierigen Lage hat. Zu heiraten und eine eigene Familie zu haben, wäre natürlich schön, sagt Mohamed.
"Viele Jordanien heiraten jetzt Syrerinnen. Sie haben nicht so viele Ansprüche wie die Jordanierinnen, die ein großes Haus und ein Auto wollen. Sie suchen nur ein gutes Zuhause. Man kann auch mit wenig Geld hingehen und heiraten und endlich offiziell mit seiner Frau das Leben beginnen."