Tellkamp: Marketing-Maschinerie hat meinem Buch geholfen
Der diesjährige Gewinner des Deutschen Buchpreises, Uwe Tellkamp, teilt die Kritik am Auswahlverfahren nicht. Dieses helfe im Gegenteil gerade unbekannteren Werken, die nötige Aufmerksamkeit zu erlangen, sagte der Autor. So habe sein prämiertes Buch "Der Turm" vermutlich auch davon profitiert, auf der Long- und Shortlist des Deutschen Buchpreises gewesen zu sein.
Susanne Führer: Gestern Abend um 18.55 Uhr löste sich die Spannung. Sechs Finalisten gab es und einer hat gewonnen. Der diesjährige Deutsche Buchpreis geht an Uwe Tellkamp für seinen Roman "Der Turm", ein Gesellschaftspanorama der letzten sieben Jahre der DDR. Ich habe gestern Abend kurz nach der Verleihung mit Uwe Tellkamp gesprochen und natürlich erst einmal gratuliert. Herzlichen Glückwunsch, Herr Tellkamp!
Uwe Tellkamp: Vielen Dank!
Führer: Was bedeutet der Preis für Sie?
Tellkamp: Das kann ich jetzt noch nicht sagen. Mein Gefühlshaushalt ist zum einen leer und zum anderen mit Glück vollgestopft. Was da draus dann entsteht, weiß ich noch nicht.
Führer: Na ja, eins bedeutet er ziemlich sicher: Anerkennung, Ruhm und vielleicht auch ziemlichen Reichtum?
Tellkamp: Na ja, ich habe eine schwarze Katze und einen kleinen Jungen zu versorgen, vielleicht bald zwei. Ob das so viel Reichtum sein wird, hm, warten wir es ab. Zunächst, glaube ich, das habe ich vergessen, ein gewisses Maß schon an Freiheit, hoffe ich.
Führer: Vielleicht einfach die Freiheit, jetzt auch ganz in Ruhe schreiben zu können ohne finanziellen Druck?
Tellkamp: Ja, das ist das, was ich sagen wollte, ganz genau.
Führer: Wie haben Sie denn, Herr Tellkamp, dieses ganze Prozedere jetzt bis zum Preis erlebt? Erst die Longlist, 20 Autoren, dann die Shortlist, dann gab es ja noch diese Blind Dates in den Buchhandlungen und dann schließlich die Siegerehrung. Das war doch sicher nervenaufreibend, oder?
Tellkamp: Merkwürdigerweise für mich weniger. Denn, wie gesagt, ich habe einen Sohn, der ist 20 Monate alt und da meine Frau voll arbeiten geht, habe ich ihn früh und ab 14.00 Uhr. Und so ein kleiner Knopf, der erdet einen ganz ordentlich. Da bleibt für eine Überlegung über Long- und Shortlist eigentlich nicht viel Zeit, was ich als sehr angenehm empfunden habe. Ich habe immer ruhig geschlafen.
Führer: Das heißt, die Debatte in den Feuilletons über die Berechtigung der Auswahl haben Sie dann auch nicht weiter verfolgt?
Tellkamp: Weniger, nein.
Führer: Haben sich denn die sechs Finalisten eigentlich untereinander irgendwie beobachtet?
Tellkamp: Ich habe keinen beobachtet. Und ich glaube, die anderen haben auch mich nicht beobachtet. Noch ist keine Webcam bei mir installiert. Nein, ich kenne einige Bücher von Long- und Shortlist, wenn Sie das unter Beobachten meinen. Das ist aber eher eine Lektüre gewesen. Aber ich habe nicht den ganzen Tag da gesessen und geguckt und gegoogelt, was jetzt das Neueste von der Front des Deutschen Buchpreises ist.
Führer: Sie haben ja in einer großherzigen Geste Ihre fünf Mitfinalisten auf die Bühne gebeten. Warum?
Tellkamp: Ja, weil Literatur nicht nur aus einem Buch oder einem Roman besteht, sondern aus der ganzen Bandbreite des Geschriebenen und Veröffentlichten, weil gerade jetzt zurzeit die deutschsprachige Lyrik exorbitant gut ist, weil es Essays gibt und Dramen gibt und weil es mir einfach wichtig war zu zeigen, es gibt nicht nur dieses eine einzige Buch, worauf sich dann alle stürzen können oder werden, sondern es ist halt wichtig, wenn man in der Gegenwart lebt, auch die anderen Stimmen, die Vielfalt einfach nicht zu vergessen.
Führer: Julia Franck, die für ihren Roman "Die Mittagsfrau" im letzten Jahr den Deutschen Buchpreis erhalten hat, die hat in unserem Programm gesagt, sie würde die Verleihung verschieben auf entweder vier Wochen vor oder auch vier Wochen nach der Buchmesse. Das sei besser, damit auch die anderen, die nicht nominierten Neuerscheinungen mehr Beachtung finden. Das geht so ein bisschen in Ihre Richtung, oder?
Tellkamp: Ich weiß nicht, ob das stimmt. Es gibt ja diese Diskussionen, dass der deutsche Buchpreis oder überhaupt jetzt die offenbar zunehmenden Events mit ähnlichem Charakter, die dann so einen Countdown anzetteln, dass die die Aufmerksamkeit von denjenigen Texten und Büchern abzögen, die eben nicht da drauf sind. Ich weiß nicht, ob das stimmt. Ich glaube nicht, dass sich Redakteure wirklich vorschreiben lassen, was sie rezensieren und was nicht. Ich lasse es mir als Leser auch nicht vorschreiben. Und im Gegenteil, oftmals geht man ja gerade deshalb auf Entdeckungslust.
Im Übrigen ist es ja auch nicht so, dass alle Texte, die auf einer Longlist stehen, jedem bekannt sind. Gerade eine solche Long- oder Shortlist schafft ja oft auch Aufmerksamkeit für Texte, die ohne diese Long- und Shortlists eben nicht mit Aufmerksamkeit bedacht worden wären, und gerade dann eben herunterfielen. Ich weiß nicht, ob mein eigenes Buch "Der Turm" ohne eine solche Marketing- oder auch Buchpreismaschinerie wirklich dieses Interesse gefunden hätte. Und das ist natürlich, so offen muss man schon sein, natürlich auch in meinem Interesse und im Interesse jedes Autors, dass er gelesen wird und werden will.
Führer: Herr Tellkamp, Sie haben gerade gesagt, "Der Turm", Ihr eigener Roman, knapp 1000 Seiten umfasst er, ich habe ihn leider noch nicht ganz durch, was aber von Anfang an auffällt, Sie beschreiben äußerst genau, wirklich jedes Detail der Villen, die Ornamente, die Türen, den Schimmel im Bad. Haben Sie das eigentlich damals schon festgehalten, als Sie in Dresden gelebt haben? Haben Sie Tagebuch geführt?
Tellkamp: Nein, das habe ich erst später gemacht. Viele der Erinnerungen waren verschüttet und kamen dann beim Schreiben allmählich wieder, was mich auch selber überrascht hat. Natürlich habe ich auch einzelne Dinge recherchiert, aber das hielt sich in Grenzen, zumindest was diese Form von Details betrifft. Warum diese Details und diese Ornamente da sind, hat einen simplen Grund. Das hängt mit dem Grundmodell des Buchs zusammen oder mit einem der Grundmetaphern: Das ist das Dornröschenland. Und ich hab mir Gedanken gemacht, wie es mir gelingen kann, diese Rosenranken darzustellen und nicht nur davon zu reden. Und diese Ornamentik, diese verschlungenen detailreichen und detailliebenden Beschreibungen sind diese Rosen, bilde ich mir ein.
Führer: "Dornröschenland" sagen Sie. Man taucht mit Ihrem Roman ja wirklich in eine ganz eigene Welt ein, eine abgeschlossene Welt, ich hatte so mehr die Assoziation Aquarium, die anfangs so viel Schönheit hat.
Tellkamp: Ja, es ist eine Schönheit des Verfalls. Und die ist natürlich immer hintersinnig. Verfall kann ja schön sein. Jeder, der nach Havanna fährt, wird das bestätigen. Aber das ist die Schönheit, die der Tourist mitnimmt. Für die, die dort leben müssen, ist es oftmals nur Überlebenskampf.
Führer: Sehen Sie sich als Chronist der Endphase der DDR?
Tellkamp: Chronist würde mir zu sehr, das hat ja Johnson immer angestrebt, aber das würde mir zu sehr im Sinne von einem Sachbuchtext klingen oder nach einem Sachbuchtext oder nach einem Sachbuchvorhaben klingen. Ich glaube schon, dass es mich interessiert, gewisse Dinge aufzuheben, weil viel vergessen wird. Aber mir ist das Quantum Fantasie oder der Zutrag Fantasie schon wichtig. Denn Leben besteht nicht nur aus Fakten, die ja im Übrigen genauso fantastisch sind. Denn woher wissen wir heute noch Fakten von damals?
Führer: Ein Sachbuchtext, so kommt Ihr Roman wirklich gar nicht daher. Ich fand, es liegt so eine große Wehmut eigentlich über diesen Roman, fast eine doppelte Wehmut. Die Helden sind wehmütig über die untergegangene Welt des Bürgertums und der Roman wiederum vermittelt die Wehmut über diese wehmütige Welt.
Tellkamp: Über die wehmütigen Bürger vielleicht, ja. Ich würde es eher als Melancholie bezeichnen. Die Melancholia, die schwarze Galle, die beim genauen Betrachten wahrscheinlich zwangsläufig hinzutritt. Die DDR, auf die der Roman ja zumindest als Modell abhebt, war keine kommode Diktatur. Dem würde ich entschieden widersprechen. Ich habe da keine Wehmut, und ich kann auch Ostalgien, obwohl ich ein gewisses Maß an Verständnis habe, weil einfach jeder sich nach einer heilen Welt offenbar sehnt und die wünscht, kann ich aber nur mit Einschränkung begrüßen im Sinne von natürlich Kindheitserinnerungen sind frei von Ideologie. Aber diese untergegangene Welt hatte nicht nur gute Seiten, sondern war eine schreckliche Diktatur, und das wird gern vergessen.
Führer: Sie beschreiben ja diese vielen Ärgernisse im Alltag, zum Beispiel die fehlenden Schmerzmittel in der Klinik, die fehlenden Tupfer in der Klinik. Und mir scheint es fast so, als wenn viele Ihrer Helden über diese Alltagsärgernisse zu einer Politisierung wider Willen gezwungen werden, die sie eigentlich gar nicht haben wollen würden, wenn sie könnten.
Tellkamp: Ja, das, glaube ich, ist schon so. Die Politik ist eben genauso wie diese Rosenranken überall hineingewuchert bis in die Beziehungen. Es gibt ein Kapitel "Erste Liebe", wo eben genau dieses jugendliche Gefühl, eigentlich auch dieser, das, was die Jugend ausmacht und darf, eben zu lieben und damit eben Überschwang auch zu zeigen, wo das vergiftet wird, weil der eine der Helden sich eben überlegen muss, ob das wirklich sinnvoll ist. Was heißt sinnvoll, ob das möglich ist, diesem Mädchen alles zu sagen, was ja bei einer Liebesbeziehung wahrscheinlich Voraussetzung sein sollte. Ja, und diese Politik wucherte überall hinein und hat Beziehungen zwischen den Menschen vergiftet und auch geprägt.
Führer: Sie schildern ja eine großbürgerliche Welt in Dresden. Inwieweit ist die eigentlich typisch oder untypisch für die DDR gewesen?
Tellkamp: Eine bildungsbürgerliche Welt.
Führer: Ja.
Tellkamp: Bildung in mehrfacher Hinsicht. Großbürger gab es nur ganz wenige, vielleicht Ardenne. Großbürger hebt mir zu sehr aufs Materielle ab.
Führer: Das stimmt, Bildung ist das Ideal, was alles da zieht.
Tellkamp: Bildung ist der Schatz und Bildung ist der Wert, den sie haben. Aber sie hausen schon in Villen, aber die sind verlottert und runtergekommen. Viel Besitz hatte da eigentlich niemand, außer an Büchern, an Schallplatten und vor allem eben an Wissen und an Besessenheit, Wissen zu behalten.
Führer: Und ist das nur eine Enklave, bei Ihnen "Der Turm", oder vielleicht doch auch etwas Typisches für die DDR?
Tellkamp: Es ist insofern typisch, weil es das oft gab, das überrascht mich selber auch. Es gab es in Jena, in Berlin, Prenzlauer Berg, dort etwas bohemehafter. Türme gab es auch überall. Und übrigens, abseits von der DDR auch in der Tschechoslowakei, in Prag, in Moskau, im Arbatviertel. Je näher man dahinschaut, desto mehr entdeckt man davon.
Führer: Die Hauptfigur Christan Hoffmann, den wir zunächst als Schüler kennenlernen, und der dann nach vielen, sagen wir, schmerzhaften Erfahrungen dann doch versucht, sich nach und nach mit der DDR zu arrangieren. Dann bricht dieses Land zusammen. Das hat ja fast in dem Fall, in diesem Moment, eine tragische Dimension, oder?
Tellkamp: Ja, ich bin ja in dem Land geboren und sozialisiert und aufgewachsen. Es wäre ganz falsch und fatal, das alles nur schlecht und schwarz und finster zu sehen. Das ist nie möglich, wie im einzelnen Menschenleben ja auch nicht alles nur auf zwei Waagschalen gelegt werden kann. Die DDR war sicherlich ein Land, was aus großen Ansprüchen und großen Idealen hervorgegangen ist, die auch am Anfang wahrscheinlich ehrlich gewesen sind. Das beschreiben andere, das beschreibt Johnson, Christa Wolf, Christoph Hein usw., viele Autoren, und die am Ende aber aufgrund eines bitteren Geheimnisses, das Adjektiv ist schon überflüssig, aufgrund eines Geheimnisses gescheitert ist. Was das war und warum das scheitern musste, warum das schiefgeht, weiß ich nicht. Wahrscheinlich hat es mit Geld zu tun.
Führer: Herr Tellkamp, Sie wurden 1968 in der DDR, genauer in Dresden geboren. Wie erleben Sie das heutige Dresden?
Tellkamp: Das heutige Dresden bleibt nicht stehen. Es verändert sich. Ich gehe selbst, wenn ich das besuche, eher wie ein Fremder durch. Das Merkwürdige ist, dass man vieles aus dieser fremd gewordenen Landschaft noch kennt, die Gerüche, den Elbhang. Es braucht einige Zeit, bis man wieder drin ist, aber trotzdem kennt man es doch und es wird doch fremd. Das ist Zeit und Zeitzutrag.
Uwe Tellkamp: Vielen Dank!
Führer: Was bedeutet der Preis für Sie?
Tellkamp: Das kann ich jetzt noch nicht sagen. Mein Gefühlshaushalt ist zum einen leer und zum anderen mit Glück vollgestopft. Was da draus dann entsteht, weiß ich noch nicht.
Führer: Na ja, eins bedeutet er ziemlich sicher: Anerkennung, Ruhm und vielleicht auch ziemlichen Reichtum?
Tellkamp: Na ja, ich habe eine schwarze Katze und einen kleinen Jungen zu versorgen, vielleicht bald zwei. Ob das so viel Reichtum sein wird, hm, warten wir es ab. Zunächst, glaube ich, das habe ich vergessen, ein gewisses Maß schon an Freiheit, hoffe ich.
Führer: Vielleicht einfach die Freiheit, jetzt auch ganz in Ruhe schreiben zu können ohne finanziellen Druck?
Tellkamp: Ja, das ist das, was ich sagen wollte, ganz genau.
Führer: Wie haben Sie denn, Herr Tellkamp, dieses ganze Prozedere jetzt bis zum Preis erlebt? Erst die Longlist, 20 Autoren, dann die Shortlist, dann gab es ja noch diese Blind Dates in den Buchhandlungen und dann schließlich die Siegerehrung. Das war doch sicher nervenaufreibend, oder?
Tellkamp: Merkwürdigerweise für mich weniger. Denn, wie gesagt, ich habe einen Sohn, der ist 20 Monate alt und da meine Frau voll arbeiten geht, habe ich ihn früh und ab 14.00 Uhr. Und so ein kleiner Knopf, der erdet einen ganz ordentlich. Da bleibt für eine Überlegung über Long- und Shortlist eigentlich nicht viel Zeit, was ich als sehr angenehm empfunden habe. Ich habe immer ruhig geschlafen.
Führer: Das heißt, die Debatte in den Feuilletons über die Berechtigung der Auswahl haben Sie dann auch nicht weiter verfolgt?
Tellkamp: Weniger, nein.
Führer: Haben sich denn die sechs Finalisten eigentlich untereinander irgendwie beobachtet?
Tellkamp: Ich habe keinen beobachtet. Und ich glaube, die anderen haben auch mich nicht beobachtet. Noch ist keine Webcam bei mir installiert. Nein, ich kenne einige Bücher von Long- und Shortlist, wenn Sie das unter Beobachten meinen. Das ist aber eher eine Lektüre gewesen. Aber ich habe nicht den ganzen Tag da gesessen und geguckt und gegoogelt, was jetzt das Neueste von der Front des Deutschen Buchpreises ist.
Führer: Sie haben ja in einer großherzigen Geste Ihre fünf Mitfinalisten auf die Bühne gebeten. Warum?
Tellkamp: Ja, weil Literatur nicht nur aus einem Buch oder einem Roman besteht, sondern aus der ganzen Bandbreite des Geschriebenen und Veröffentlichten, weil gerade jetzt zurzeit die deutschsprachige Lyrik exorbitant gut ist, weil es Essays gibt und Dramen gibt und weil es mir einfach wichtig war zu zeigen, es gibt nicht nur dieses eine einzige Buch, worauf sich dann alle stürzen können oder werden, sondern es ist halt wichtig, wenn man in der Gegenwart lebt, auch die anderen Stimmen, die Vielfalt einfach nicht zu vergessen.
Führer: Julia Franck, die für ihren Roman "Die Mittagsfrau" im letzten Jahr den Deutschen Buchpreis erhalten hat, die hat in unserem Programm gesagt, sie würde die Verleihung verschieben auf entweder vier Wochen vor oder auch vier Wochen nach der Buchmesse. Das sei besser, damit auch die anderen, die nicht nominierten Neuerscheinungen mehr Beachtung finden. Das geht so ein bisschen in Ihre Richtung, oder?
Tellkamp: Ich weiß nicht, ob das stimmt. Es gibt ja diese Diskussionen, dass der deutsche Buchpreis oder überhaupt jetzt die offenbar zunehmenden Events mit ähnlichem Charakter, die dann so einen Countdown anzetteln, dass die die Aufmerksamkeit von denjenigen Texten und Büchern abzögen, die eben nicht da drauf sind. Ich weiß nicht, ob das stimmt. Ich glaube nicht, dass sich Redakteure wirklich vorschreiben lassen, was sie rezensieren und was nicht. Ich lasse es mir als Leser auch nicht vorschreiben. Und im Gegenteil, oftmals geht man ja gerade deshalb auf Entdeckungslust.
Im Übrigen ist es ja auch nicht so, dass alle Texte, die auf einer Longlist stehen, jedem bekannt sind. Gerade eine solche Long- oder Shortlist schafft ja oft auch Aufmerksamkeit für Texte, die ohne diese Long- und Shortlists eben nicht mit Aufmerksamkeit bedacht worden wären, und gerade dann eben herunterfielen. Ich weiß nicht, ob mein eigenes Buch "Der Turm" ohne eine solche Marketing- oder auch Buchpreismaschinerie wirklich dieses Interesse gefunden hätte. Und das ist natürlich, so offen muss man schon sein, natürlich auch in meinem Interesse und im Interesse jedes Autors, dass er gelesen wird und werden will.
Führer: Herr Tellkamp, Sie haben gerade gesagt, "Der Turm", Ihr eigener Roman, knapp 1000 Seiten umfasst er, ich habe ihn leider noch nicht ganz durch, was aber von Anfang an auffällt, Sie beschreiben äußerst genau, wirklich jedes Detail der Villen, die Ornamente, die Türen, den Schimmel im Bad. Haben Sie das eigentlich damals schon festgehalten, als Sie in Dresden gelebt haben? Haben Sie Tagebuch geführt?
Tellkamp: Nein, das habe ich erst später gemacht. Viele der Erinnerungen waren verschüttet und kamen dann beim Schreiben allmählich wieder, was mich auch selber überrascht hat. Natürlich habe ich auch einzelne Dinge recherchiert, aber das hielt sich in Grenzen, zumindest was diese Form von Details betrifft. Warum diese Details und diese Ornamente da sind, hat einen simplen Grund. Das hängt mit dem Grundmodell des Buchs zusammen oder mit einem der Grundmetaphern: Das ist das Dornröschenland. Und ich hab mir Gedanken gemacht, wie es mir gelingen kann, diese Rosenranken darzustellen und nicht nur davon zu reden. Und diese Ornamentik, diese verschlungenen detailreichen und detailliebenden Beschreibungen sind diese Rosen, bilde ich mir ein.
Führer: "Dornröschenland" sagen Sie. Man taucht mit Ihrem Roman ja wirklich in eine ganz eigene Welt ein, eine abgeschlossene Welt, ich hatte so mehr die Assoziation Aquarium, die anfangs so viel Schönheit hat.
Tellkamp: Ja, es ist eine Schönheit des Verfalls. Und die ist natürlich immer hintersinnig. Verfall kann ja schön sein. Jeder, der nach Havanna fährt, wird das bestätigen. Aber das ist die Schönheit, die der Tourist mitnimmt. Für die, die dort leben müssen, ist es oftmals nur Überlebenskampf.
Führer: Sehen Sie sich als Chronist der Endphase der DDR?
Tellkamp: Chronist würde mir zu sehr, das hat ja Johnson immer angestrebt, aber das würde mir zu sehr im Sinne von einem Sachbuchtext klingen oder nach einem Sachbuchtext oder nach einem Sachbuchvorhaben klingen. Ich glaube schon, dass es mich interessiert, gewisse Dinge aufzuheben, weil viel vergessen wird. Aber mir ist das Quantum Fantasie oder der Zutrag Fantasie schon wichtig. Denn Leben besteht nicht nur aus Fakten, die ja im Übrigen genauso fantastisch sind. Denn woher wissen wir heute noch Fakten von damals?
Führer: Ein Sachbuchtext, so kommt Ihr Roman wirklich gar nicht daher. Ich fand, es liegt so eine große Wehmut eigentlich über diesen Roman, fast eine doppelte Wehmut. Die Helden sind wehmütig über die untergegangene Welt des Bürgertums und der Roman wiederum vermittelt die Wehmut über diese wehmütige Welt.
Tellkamp: Über die wehmütigen Bürger vielleicht, ja. Ich würde es eher als Melancholie bezeichnen. Die Melancholia, die schwarze Galle, die beim genauen Betrachten wahrscheinlich zwangsläufig hinzutritt. Die DDR, auf die der Roman ja zumindest als Modell abhebt, war keine kommode Diktatur. Dem würde ich entschieden widersprechen. Ich habe da keine Wehmut, und ich kann auch Ostalgien, obwohl ich ein gewisses Maß an Verständnis habe, weil einfach jeder sich nach einer heilen Welt offenbar sehnt und die wünscht, kann ich aber nur mit Einschränkung begrüßen im Sinne von natürlich Kindheitserinnerungen sind frei von Ideologie. Aber diese untergegangene Welt hatte nicht nur gute Seiten, sondern war eine schreckliche Diktatur, und das wird gern vergessen.
Führer: Sie beschreiben ja diese vielen Ärgernisse im Alltag, zum Beispiel die fehlenden Schmerzmittel in der Klinik, die fehlenden Tupfer in der Klinik. Und mir scheint es fast so, als wenn viele Ihrer Helden über diese Alltagsärgernisse zu einer Politisierung wider Willen gezwungen werden, die sie eigentlich gar nicht haben wollen würden, wenn sie könnten.
Tellkamp: Ja, das, glaube ich, ist schon so. Die Politik ist eben genauso wie diese Rosenranken überall hineingewuchert bis in die Beziehungen. Es gibt ein Kapitel "Erste Liebe", wo eben genau dieses jugendliche Gefühl, eigentlich auch dieser, das, was die Jugend ausmacht und darf, eben zu lieben und damit eben Überschwang auch zu zeigen, wo das vergiftet wird, weil der eine der Helden sich eben überlegen muss, ob das wirklich sinnvoll ist. Was heißt sinnvoll, ob das möglich ist, diesem Mädchen alles zu sagen, was ja bei einer Liebesbeziehung wahrscheinlich Voraussetzung sein sollte. Ja, und diese Politik wucherte überall hinein und hat Beziehungen zwischen den Menschen vergiftet und auch geprägt.
Führer: Sie schildern ja eine großbürgerliche Welt in Dresden. Inwieweit ist die eigentlich typisch oder untypisch für die DDR gewesen?
Tellkamp: Eine bildungsbürgerliche Welt.
Führer: Ja.
Tellkamp: Bildung in mehrfacher Hinsicht. Großbürger gab es nur ganz wenige, vielleicht Ardenne. Großbürger hebt mir zu sehr aufs Materielle ab.
Führer: Das stimmt, Bildung ist das Ideal, was alles da zieht.
Tellkamp: Bildung ist der Schatz und Bildung ist der Wert, den sie haben. Aber sie hausen schon in Villen, aber die sind verlottert und runtergekommen. Viel Besitz hatte da eigentlich niemand, außer an Büchern, an Schallplatten und vor allem eben an Wissen und an Besessenheit, Wissen zu behalten.
Führer: Und ist das nur eine Enklave, bei Ihnen "Der Turm", oder vielleicht doch auch etwas Typisches für die DDR?
Tellkamp: Es ist insofern typisch, weil es das oft gab, das überrascht mich selber auch. Es gab es in Jena, in Berlin, Prenzlauer Berg, dort etwas bohemehafter. Türme gab es auch überall. Und übrigens, abseits von der DDR auch in der Tschechoslowakei, in Prag, in Moskau, im Arbatviertel. Je näher man dahinschaut, desto mehr entdeckt man davon.
Führer: Die Hauptfigur Christan Hoffmann, den wir zunächst als Schüler kennenlernen, und der dann nach vielen, sagen wir, schmerzhaften Erfahrungen dann doch versucht, sich nach und nach mit der DDR zu arrangieren. Dann bricht dieses Land zusammen. Das hat ja fast in dem Fall, in diesem Moment, eine tragische Dimension, oder?
Tellkamp: Ja, ich bin ja in dem Land geboren und sozialisiert und aufgewachsen. Es wäre ganz falsch und fatal, das alles nur schlecht und schwarz und finster zu sehen. Das ist nie möglich, wie im einzelnen Menschenleben ja auch nicht alles nur auf zwei Waagschalen gelegt werden kann. Die DDR war sicherlich ein Land, was aus großen Ansprüchen und großen Idealen hervorgegangen ist, die auch am Anfang wahrscheinlich ehrlich gewesen sind. Das beschreiben andere, das beschreibt Johnson, Christa Wolf, Christoph Hein usw., viele Autoren, und die am Ende aber aufgrund eines bitteren Geheimnisses, das Adjektiv ist schon überflüssig, aufgrund eines Geheimnisses gescheitert ist. Was das war und warum das scheitern musste, warum das schiefgeht, weiß ich nicht. Wahrscheinlich hat es mit Geld zu tun.
Führer: Herr Tellkamp, Sie wurden 1968 in der DDR, genauer in Dresden geboren. Wie erleben Sie das heutige Dresden?
Tellkamp: Das heutige Dresden bleibt nicht stehen. Es verändert sich. Ich gehe selbst, wenn ich das besuche, eher wie ein Fremder durch. Das Merkwürdige ist, dass man vieles aus dieser fremd gewordenen Landschaft noch kennt, die Gerüche, den Elbhang. Es braucht einige Zeit, bis man wieder drin ist, aber trotzdem kennt man es doch und es wird doch fremd. Das ist Zeit und Zeitzutrag.