Thomas Kunst: Kolonien und Manschettenknöpfe
Gedichte. Suhrkamp Verlag 2017
121 Seiten. 20 Euro
Lyrische Schlitterfahrt
Trotz seiner wortgewaltigen Gedichte hat der Literaturbetrieb Thomas Kunst bislang geflissentlich übersehen. Dass das ein Fehler war, stellt Kunst mit seinem neuen Band "Kolonien und Manschettenknöpfe" abermals unter Beweis.
Ist das Dichtung? So könnte man sich verwundert fragen, wenn man sich verirrt hat in den abenteuerlichen Band "Kolonien und Manschettenknöpfe". Aber solch einen großartigen Titel kann nur ein veritabler Dichter erfinden – auch wenn der deutsche Literaturbetrieb Thomas Kunst, der 1965* in Stralsund zur Welt kam und in den Neunzigern des vergangenen Jahrhunderts kurzzeitig mit seinen wortgewaltigen Gedichten reüssierte, bis heute beflissentlich ignoriert.
Dennoch ist da ein kleiner, treuer Kreis an Verehrern und Bewunderern – darunter nicht zuletzt Feridun Zaimoglu, den Kunst im neuen Band mit mehreren Briefpoemen ehrt als ‚mein Bruder Feri-San’. Was beide verbindet: eine irrlichternde Mischung aus scheinbarer Schnoddrigkeit und ingrimmig-ernsthafter Zärtlichkeit, mit der hier auf die Welt geblickt wird. Die Welt, das ist im vorliegenden Band die Ferne und die Nähe; sind Malawi und Mosambik, Bombay und das pakistanische Hunza-Tal – aber auch und vor allem die Ruinen einer ostdeutschen Kindheitslandschaft, die Thomas Kunst noch einmal zum Leben erweckt: Tagebau und sowjetische Armee, meterhohe Schneewehen auf Rügen und Orte großer Verlassenheit, zwischen Softeis und Schwedenbechern träumte man von einem Leben in der Ferne, führte Scheingefechte mit arabischen Reitern zwischen Baumarkt-Regalen.
Die Lektüre gleich einer Schlittenfahrt
Nichts ist hier allerdings in linearen Folgen erzählt. Kunst arbeitet vielmehr mit harten Schnitten, verfugt das Gegensätzliche mittels überraschender Wortkollisionen wie splitternde Eisberge ineinander, die Fremdes nahe und Vertrautes in neues Licht rücken. Die Lektüre gleicht ergo einer Schlitterfahrt, die einen hin und her schüttelt. Erst nach und nach entdeckt man innere Kohärenzen, erschaffen durch das Mittel der Wiederholung; seien das klangliche Muster wie die Alliteration, seien das wiederkehrende Passagen, aufgegriffen wie eine Staffel am Anheben je neuer Strophen und Gedichte.
Denn Kunst erweist erneut, dass er vor allem das Sonett – mit dem er hier augenzwinkernd in Form eines Sonettenkranzes spielt – meisterlich beherrscht, nicht zuletzt um zu verbinden, was sich eigentlich nicht verbinden lässt. Alles folgt hier nämlich assoziativen, eher musikalischen Mustern – daher auch die Plattenliste im Anhang des Bandes. Alles ist geleitet von einer nervösen, zugleich seismisch genauen Notation. So öffnen sich mittels eindringlicher Bilderfolgen unerwartete Zusammenhänge, die mit melancholischem Unterton von einer Welt erzählen, die aus den Fugen ist, wenn etwa seltene Delphine sterben, weil tumbe Menschen mit ihnen Selfies machen. Es gibt Seitenhiebe auf den Literaturbetrieb, der KZ-Gedichte und Betroffenheitspathos liebt – aber auch Liebeserklärungen an jene Schriftsteller, die wie Zaimoglu für Thomas Kunst wahre Brüder sind oder Weggenossen und Vorbilder waren.
Seine Dichtung ist insofern eher Erzählung: unverstellt und unabsehbar wie das echte Leben. Am Ende bleibt das Auge hängen an der Formel "Rest und Geschichte". Das wäre auch kein schlechter Titel gewesen für den so elegischen wie erratischen Abgesang, den Thomas Kunst mit "Kolonien und Manschettenknöpfe" liefert.
*) In einer früheren Version wurde das Alter des Autors falsch genannt.