Tristan Garcia: "Das intensive Leben. Eine moderne Obsession"
Aus dem Französischen von Ulrich Kunzmann
Suhrkamp, Berlin 2017, 215 Seiten, 24 Euro
Der Kick ist in der Krise
Der neue Superstar der französischen Intellektuellen heißt Tristan Garcia. In seinem Buch "Das intensive Leben" beschreibt der junge Philosoph, wie unsere ständige Suche nach dem Kick statt Erfüllung nur Erschöpfung bringt.
Das Leben ist nur dann gelungen, wenn man intensiv lebt, wenn ein Kick dem nächsten folgt. Und dazu braucht man das Neuste und Beste: noch schärfere Bilder dank eines neuen Flachbildschirms, noch bessere Rezepte mit dem neuen Kochbuch und eine noch klarere Selbstwahrnehmung mit Hilfe der neusten Fitness-App. Den "höchsten Wert des modernen Lebens" nennt der junge Philosoph Tristan Garcia dieses Streben nach Optimierung in seinem knapp 200-seitigen Essay, das den 1981 geborenen zum Superstar der französischen Intellektuellen macht. Dort wird sein Buch seit Wochen gefeiert.
Immer gehe es um "starke Empfindungen, die unser Leben rechtfertigen sollen"; immer darum, dass Leben so intensiv wie möglich zu leben. Doch genau das führe statt zu Erfüllung zu Erschöpfung. Den Hype um die Intensität erklärt der Mittdreißiger damit, dass sinnstiftende Weltzugänge wie Transzendenz, Religion oder Ideologien in der Moderne immer weniger Menschen erreichen. Außerdem lasse sich in einer aufgeklärten Gesellschaft niemand mehr vorschreiben, was das "richtige" Leben sei.
Ein elektrische Schlag beim Berühren einer Frau
Propagiert werde "das intensive Leben" schon länger, spätestens seit im 18. Jahrhundert der Kult aufkam, in Salons über elektrische Experimente zu plaudern. Legendär ist der "elektrische Kuss von Leipzig", eine Attraktion, bei der jeder einen Schlag bekam, der eine junge Dame küsste, die mit einer Elektrisiermaschine verbunden ist. Dort sei die Vorstellung entstanden, dass der menschliche Körper Intensität enthalte, die man abrufen könne, vergleichbar mit der Elektrizität, die Materie auflädt.
Der Libertin des 18. Jahrhunderts, die Dichter des "Sturm und Drang" und später die Rockstars mit ihren elektrischen Gitarren – sie alle verkörperten die Jahrhunderte währende Suche nach dem intensiven Kick, so Tristan Garcia. Jetzt aber, da jeder nach Intensität strebe, sei das Konzept in der Krise.
Von der Gefahr durch Übertreibung
Garcia erklärt das schlicht damit, dass Intensität sich nicht unendlich steigern lässt, weil nicht nur jede Steigerung natürliche Grenzen hat, sondern jeder Kick auch irgendwann mal zur Routine wird. Und Garcia fragt, ob man das einfach ignorieren solle auf die Gefahr der Selbstzerstörung hin, oder ob man nicht doch innehalten und sich zu den "Verheißungen der Weisheit und des Heils" der Vormoderne bekennen solle.
Garcias Gegenentwurf basiert auf "einer Ethik der Intensität", die in ihrem Grundsatz lauten könnte: "Lebe intensiv, aber übertreib' es nicht". Dabei hänge die Intensität nicht von einem "feststellbaren äußeren Wesen" ab, sondern sei eine "innere Wahrnehmungserfahrung". Oder einfach gesagt: dem Philosophen geht es schlicht um das Gefühl, sich in einer ausgewogenen Balance zu befinden. Gemäß dem Motto: übertreibe nicht, sei aber auch nicht zu verkopft. Nur so bleibe das Gefühl, "dass man wirklich lebt", schreibt Tristan Garcia weiter.
"Ach", möchte man dem entgegnen: "Dass diese Durchhalterhetorik unter Frankreichs Intellektuellen derzeit gefeiert wird, kann nur wundern." Nicht ein einziges Mal fragt Tristan Garcia nach gesellschaftlichen Rahmenbedingungen. Jegliche Kapitalismuskritik ist ihm fremd. Indem er die unerfüllbare Suche nach Intensität auf ein Problem des Individuums reduziert, geht sein Buch so leider über den praktischen Wert gewöhnlicher Glücksratgeber nicht hinaus. Ein "brillantes", ein "kluges" Buch? Immerhin wurde Garcias "Das intensive Leben" als ein solches gefeiert, sollte aber darüber hinausgehen. - Oder etwa nicht?
Und zurück bleibt eine ratlose wie enttäuschte Rezensentin.
Und zurück bleibt eine ratlose wie enttäuschte Rezensentin.