Viele Hauptschüler finden keinen Ausbildungsplatz
Die Betriebe klagen über einen Mangel an Azubis. Gleichzeitig finden viele Hauptschüler keinen Ausbildungsplatz mehr. Löst sich dieser Widerspruch nicht bald auf, werden wohl die Spannungen in der Gesellschaft zunehmen.
"Ich heiße Onjan. Ich bin 16 Jahre alt und ich bin hier zu diesem Chance Plus gekommen, weil ich hatte keinen Schulabschluss."
Der junge Mann mit den kurzgeschorenen schwarzen Haaren schaut aus dem Fenster. Etliche Stockwerke tiefer erstreckt sich das Glasdach des Berliner Hauptbahnhofs. Die Deutsche Bahn hat zu einer Informationsveranstaltung eingeladen.
"Hab ich gemerkt, dass es nicht so leicht ist, ohne Abschluss was zu finden."
Deswegen ist für ihn das Programm "Chance Plus" der Bahn eine Möglichkeit, erst einmal einen Arbeitsbereich des Unternehmens kennen zu lernen, in dem er sich später auch eine Ausbildung vorstellen könnte: "Gebäudeglasreinigung".
Am Ende des sechs- bis zwölfmonatigen Berufsvorbereitungsprogramms, mit Praxis- und Schulphasen, das die Bahn in Zusammenarbeit mit der Bundesagentur für Arbeit anbietet, seien die Aussichten auf einen Ausbildungsplatz oder einen Direkteinstieg gut, schreibt die Bahn auf ihrer Internetseite. Rund 75 Prozent der Absolventen hätten den Einstieg geschafft.
Darauf hofft auch Carlo Bergmann. Er hat 2012 seinen Realschulabschluss gemacht.
"Danach habe ich eine einjährige Berufsfachschule besucht, um quasi die Erweiterung in die Fachoberschule zu erwerben, hab dann aber die Schule abgebrochen und bin in der Gastronomie gelandet. Und wollte jetzt nochmal nach einer Ausbildung Ausschau halten."
Für das kommende Jahr hat sich der 25-Jährige bei der Bahn für eine Ausbildung beworben: Kaufmann für Verkehrsservice. Vorgeschaltet ist ein Praktikum, das ihn auf die Ausbildung vorbereiten soll. So hofft Carlo Bergmann, doch noch zum Ziel zu kommen. Viele Bewerbungen hatte er geschrieben, sagt er. Und viele Absagen bekommen.
"Ja, das ist natürlich demütigend. Aber man darf nicht aufgeben, man muss weitermachen, und ich sehe das hier wirklich als große Chance."
Demographie und Trend zum Studium
Es klingt paradox: Viele Jugendliche haben Schwierigkeiten, einen Ausbildungsplatz zu finden. Gleichzeitig klagen viele Unternehmen darüber, dass sie freie Ausbildungsplätze nicht besetzen können.
"Zum einen ist die demographische Entwicklung Ursache für den Azubimangel in den Betrieben",
erklärte Achim Dercks, stellvertretender Hauptgeschäftsführer des DIHK, des Deutschen Industrie- und Handelskammertages bei einem Interview Mitte Juli.
"Weil wir heute über 100.000 weniger Schulabgänger haben als noch vor 10 Jahren. Die zweite Dominante ist der Trend zum Studium. Wir haben heute 150.000 mehr Studienanfänger als auch noch vor 10 Jahren."
Und Eric Schweitzer, der Präsident des Deutschen Industrie- und Handelskammertages klagte in einem Zeitungsinterview: "Uns geht der Nachwuchs aus".
Rund 15.000 Ausbildungsbetriebe – und damit jeder zehnte – hätten im vergangenen Jahr keine einzige Bewerbung erhalten. Und auch für das neue Ausbildungsjahr dürften gut 40.000 Plätze unbesetzt bleiben, schätzte der DIHK-Präsident.
"Trotzdem werden auch in diesem Jahr tausende Bewerber keine Lehrstelle bekommen",
sagt Matthias Anbuhl, Bildungsexperte beim Deutschen Gewerkschaftsbund. "Wir hatten im letzten Jahr 43.500 offene Ausbildungsplätze und über 80.000 Jugendliche, die aktuell noch einen Platz gesucht haben. Hinzu kommen fast 300.000 Jugendliche, die sich in Ersatzmaßnahmen im Übergang von der Schule in Ausbildung befinden."
"Schwierigkeiten, einen Ausbildungsplatz zu finden, haben nicht nur Jugendliche ohne Schulabschluss, sondern auch viele, die die Hauptschule erfolgreich abgeschlossen haben", sagt Anbuhl. "Weil mehr und mehr Betriebe suchen eigentlich immer bessere Auszubildende. Wir haben und vom DGB mal die bundesweite Lehrstellenbörse der Industrie- und Handelskammern angeschaut. Von den knapp 50.000 Angeboten, die dort sind, stehen 2/3 Jugendlichen mit Hauptschulabschluss nicht mehr offen. Das heißt, sie sind von vorneherein ausgeschlossen, haben eh ein eingeschränktes Auswahlspektrum."
Inzwischen haben knapp 28 Prozent der Azubis Abitur. 2009 waren es noch 20 Prozent. Laut DGB schafft nur jeder zweite Hauptschüler direkt den Sprung von der Schule in die Ausbildung. Die übrigen landen zu einem großen Teil in Übergangsmaßnahmen, die sie auf die Ausbildung vorbereiten sollen.
Rechenprobleme und Defizite im Ausdrucksvermögen
Eine Umfrage, an der sich rund 11.000 Ausbildungsbetriebe beteiligt haben, kam zu dem Ergebnis, dass etwa 80 Prozent von ihnen angesichts des Lehrlingsmangels auch schwächeren Schulabgängern eine Chance geben. Zugleich bemängelte jeder zweite "elementare Rechenprobleme", fast 60 Prozent Defizite beim mündlichen und schriftlichen Ausdrucksvermögen. Fast ein Drittel klagt über mangelnde Motivation, Belastbarkeit oder Teamfähigkeit.
Auch wenn die Betriebe ihre Azubis heute mehr unterstützten, ein gewisses Qualitätsniveau müsse es geben, sagt der stellvertretende DIHK-Hauptgeschäftsführer Achim Dercks:
"Denn Azubis arbeiten direkt in den Betrieben, sind direkt in den Leistungsprozess integriert, sprich, haben auch Kontakt mit Kunden, arbeiten auch an den Produkten, und die brauchen eben eine gewisse Qualität, genauso wie die Dienstleistung. Deshalb ist der Weg, da Abstriche bei den Leistungen zu machen auch begrenzt."
In der Vergangenheit sind auch die Unterstützungsmöglichkeiten für Betriebe und Jugendliche ausgebaut werden, um die schulischen Defizite anzugehen. So gibt es zum Beispiel ausbildungsbegleitende Lernhilfen und assistierte Ausbildung für lernschwächere Jugendliche. Neben der Qualifikation gibt es allerdings noch ein weiteres Problemfeld. Und das, sagt Matthias Anbuhl, hänge mit dem Wohnort zusammen.
"Während für Jugendliche die Situation besonders schlecht ist im Ruhrgebiet, in Dortmund, Duisburg, Oberhausen, teilweise in den mittleren Städten Hessens und Niedersachsen, aber auch im Norden Schleswig-Holsteins, gibt es eine hohe Bewerbernachfrage im Schwarzwald, in Bayern, aber auch an der Ostseeküste Mecklenburg-Vorpommerns. Das heißt, wir haben auch regionale Spannungen."
Gesellschaftliche Spannungen werden zunehmen
Doch selbst wenn die Firmen dort auch Jugendliche einstellen würden, die schulisch schwächer waren – die Auszubildenden bekommen nicht genug Geld, um sich einen Umzug oder eine eigene Wohnung leisten zu können. Der DGB fordert deshalb Ausbildungstickets – den Semestertickets für Studenten ähnlich – um längere Anfahrten bezahlbar zu machen. Auch über Azubiwohnheime könne man nachdenken.
"Wenn wir weiterhin unbesetzte Ausbildungsplätze haben, auf der anderen Seite vom Ausbildungsmarkt ausgeschlossen bleiben, dann werden die gesellschaftlichen Spannungen zunehmen."
Kevin Vogel steht am Berliner Hauptbahnhof. Nach dem Abitur und dem Freiwilligen Sozialen Jahr in einer Kindertagestätte, wusste er nicht, was er beruflich machen sollte, wurde arbeitslos. Mit dem Programm ChancePlus der Bahn konnte er noch einmal neu starten.
"Der praktische Teil, da ist man als so genannter Impulsverkäufer auf den Zügen unterwegs. Man hat da so ein Metallgestell mit Rädern dran, wo oben die Kaffeekannen drauf sind, da sind Snacks drauf, belegte Brote, kalte Getränke."
Kein ganz leichter Job, aber man erkenne sehr schnell, ob man für einen Job im Service geeignet sei. Er sei es gewesen, sagt der 25-Jährige. Und er hatte Glück. Weil er Abitur hat, konnte er bereits nach einem Vierteljahr über die Zeitarbeitsfirma der Bahn in den Job einsteigen und in der ersten Klasse arbeiten. Bis zum Beginn seiner Ausbildung zur Fachkraft im Gastgewerbe. Die hat er inzwischen abgeschlossen – und liebe seinen Job, sagt er.
"Und wenn man diese zwei Jahre absolviert hat, und gut absolviert hat, dann hat man auch die Chance, noch ein drittes Jahr dran zu hängen und die Fachkraft für Systemgastronomie zu machen. Da bin ich jetzt dabei."