Ein unwürdiger EU-Beitrittskandidat
Der politische Analyst Ekrem Eddy Güzeldere sieht für die Türkei vor dem Hintergrund von gesellschaftlichen Spannungen, Youtube-Affäre und Korruptionsvorwürfen gegen Ministerpräsident Erdogan keinen Platz in der Europäischen Union.
Jörg Degenhardt: Gar keine Frage, er hat dem Land seinen Stempel aufgedrückt. Wirtschaftswachstum, EU-Kandidatur, Aufstieg zur Regionalmacht im Nahen Osten, das sind vielleicht die wichtigsten Stichworte. Erdogan hat der Türkei in den elf Jahren seiner bisherigen Amtszeit gewissermaßen ein neues Gesicht gegeben. Dafür lieben ihn seine Anhänger. Die Opposition nennt ihn einen Diktator. Sie verweist auf Korruption und Vetternwirtschaft, auf die Einschränkung der Meinungsfreiheit. Auch nur einige Stichworte. Gestern gab es zwar nur Kommunalwahlen im Land, aber die knapp 53 Millionen Wahlberechtigten, sie haben wohl auch über Erdogan geurteilt. Wie, das ist inzwischen bekannt: 45 Prozent für seine AKP. Am Telefon begrüße ich Ekrem Eddy Güzeldere, Politologe und Analyst einer internationalen Denkfabrik in Istanbul, der Europäischen Stabilitätsinitiative. Guten Morgen!
Ekrem Eddy Güzeldere: Guten Morgen!
Degenhardt: Ministerpräsident Erdogan ringe um die Macht. Die Kommunalwahlen seien ein wichtiger Test für ihn, so war im Vorfeld der Abstimmung vielfach zu hören. Den Test hat er, ja, bestanden, mit Bravour geradezu. Sind Sie überrascht?
"Auf das Altbewährte gesetzt"
Güzeldere: Die meisten Umfrageinstitute haben ungefähr dieses Ergebnis erwartet von zwischen 43 und 46 Prozent. Das ist eingetreten. Man hat gesehen, dass weder die Korruptionsskandale noch die Auseinandersetzungen mit der Gülen-Bewegung ein wirklich wahlentscheidender Faktor waren, sondern dass die Leute auf das Altbewährte gesetzt haben, und das ist eben die AKP, seit über einem Jahrzehnt.
Degenhardt: Sie haben die Korruptionsvorwürfe noch mal erwähnt. Auch das Twitter-Verbot habe ich schon genannt, die Blockierung von YouTube – warum sitzt Erdogan mit seiner AKP so fest im Sattel? Was sehen Sie als Hauptgrund? Oder gibt es mehrere?
Güzeldere: Wahlentscheidend ist weiterhin die Wirtschaftssituation für die meisten Menschen, und da geht es der Türkei noch relativ gut. Auch erinnern sich die Wähler an die Regierungen, die davor an der Macht waren, und an das politische und wirtschaftliche Chaos der 90er-Jahre, das eben hauptsächlich die Oppositionsparteien zu verantworten haben. Beim Korruptionsskandal sind viele Türken einfach pragmatisch und sagen, eigentlich stehlen alle Politiker, aber die AKP stiehlt und macht dabei noch etwas. Solange es der Wirtschaft nicht schlecht geht, wird sich deshalb an dem Bild, das wir gestern gesehen haben, nicht viel ändern.
Degenhardt: Was ist mit den Gezi-Protesten vom Sommer des letzten Jahres in Istanbul? Was ist mit den Menschen, die sich damals gegen Erdogan auf die Straße begeben haben? Sie sind völlig untergetaucht oder – nein, sie haben für die Opposition gestimmt?
Güzeldere: Sicher haben die nicht für die AKP gestimmt. Viele von dieser Gezi-Bewegung sind in der prokurdischen Partei BDP aufgegangen, die in der Westtürkei unter einem anderen Namen angetreten ist. Diese Partei hat keinen großen Zuwachs erfahren, aber es handelt sich auch um eine relativ kleine Schicht urbaner junger Menschen, die damals protestiert haben, und die sind mit drei, vier Prozent in dieser neu gegründeten Partei in der Westtürkei aufgegangen, aber das ist keine Massenbewegung, die zurzeit die AKP gefährden kann.
Degenhardt: Und was ist mit der muslimischen Gülen-Bewegung? Erdogan bezeichnet die einstigen Verbündeten jetzt als seinen Hauptgegner. Ist sie das?
"Wahlentscheidend ist die Gülen-Bewegung nicht"
Güzeldere: Er sieht das so, da er sie dafür verantwortlich macht, dass zum einen die Untersuchungen in diesen Korruptionsskandalen von Staatsanwälten ausgehen, die der Gülen-Bewegung nahestehen, und dass die Telefonmitschnitte und -gespräche bei YouTube auch von Gülen-Leuten ins Netz gestellt wurden. Wahlentscheidend ist die Gülen-Bewegung nicht. Sie hat vielleicht eine Verschiebung von zwei bis drei Prozent verursacht, hauptsächlich von der AKP zu der rechtsradikalen, nationalistischen MHP-Partei, die einige Achtungserfolge erringen konnte, aber eben auch nicht mehr als zwei bis drei Prozent an dem Wahlergebnis verändert hat.
Degenhardt: Herr Güzeldere, was wird Erdogan mit dem Triumph von gestern in der Zukunft anfangen? Wird die Türkei jetzt möglicherweise noch autoritärer regiert?
Güzeldere: Seine Rede nach der Wahl weist in diese Richtung. Er wird das als Rückenwind dafür hernehmen, vor allem gegen die Gülen-Bewegung weiter vorzugehen. Man rechnet mit Massenverhaftungen gegen Gülens Sympathisanten und ein Vorgehen gegen die Wirtschaftsverbände, die der Gülen-Bewegung nahestehen, der man höchstwahrscheinlich hohe Geldstrafen verpasst im Zuge von Steueruntersuchungen. Was für die Türkei in den nächsten Wochen ansteht, sind Präsidentschaftswahlen im August, und dieses Ergebnis kann Erdogan auch als Bestätigung seiner Politik sehen und sich damit zum Kandidat der AKP machen. Das war ja noch lange in der Schwebe, ob er oder der aktuelle Präsident Gül der Präsident für die erste vom Volk gewählte Präsidentschaftswahl wird. Und jetzt sieht es danach aus, dass Erdogan das als Bestätigung sieht und sich zum Kandidaten macht.
Degenhardt: Wir haben vor 40 Minuten mit unserem Korrespondenten gesprochen in Istanbul. Der meinte, dass sich Erdogan nicht zur Wahl stellen wird als Staatspräsident. Im Gegenteil, dass er eine weitere Amtszeit als Regierungschef anstreben wird. Was vermuten Sie denn?
Erdogan wird der Politik erhalten bleiben
Güzeldere: Das ist auch möglich. Er wird auf jeden Fall der Politik erhalten bleiben. Nur, um im nächsten Jahr noch mal als Ministerpräsident zu kandidieren, muss er die innerparteilichen Statuten ändern. Das wird gemunkelt, und einige aus seiner Partei fordern das, aber er hat sich bis dahin noch nicht positiv geäußert. Deswegen, wenn er die Statuten nicht ändert, kann er gar nicht mehr kandidieren. Dann bleibt ihm der Präsident. Dafür hat er jetzt ein gutes Ergebnis. Wenn er trotzdem, aufgrund der Polarisierung und vielleicht der Meinungen seiner Berater davon absieht und Gül den Vortritt lässt, dann müsste er die Statuten ändern und ein viertes Mal kandidieren.
Degenhardt: Was meinen Sie denn, Herr Güzeldere, gehört die Türkei in dem jetzigen Stadium ihrer Entwicklung – wir haben über das Wirtschaftswachstum kurz gesprochen, aber auch über die Einschränkung der Meinungsfreiheit, von der Justiz will ich jetzt gar nicht reden – gehört die Türkei in diesem Stadium ihrer Entwicklung in die Europäische Union?
Güzeldere: Nein. Die letzten Monate, die sind sicher nicht eines Landes würdig, das EU-Kandidat ist. Trotzdem ist der EU-Prozess weiterhin einer der wenigen Anker in Richtung Demokratisierung, deshalb sollte der Prozess um die Verhandlungen nicht abgebrochen werden und versucht werden auch von außen, die Türkei auf einen Weg wieder der Demokratisierung und Europäisierung zu bringen. In der aktuellen Situation dieser extremen Polarisierung zwischen AKP und dem Rest, AKP und der Opposition, ist sehr schwer vorstellbar, dass sich das positiv löst in den nächsten Monaten und Jahren. Aber es wird auch wieder eine Zeit ohne AKP und mit anderen Regierungen geben. Und dann ist dieser EU-Prozess besonders wichtig.
Degenhardt: Der Politologe Ekrem Eddy Güzeldere nach den Kommunalwahlen gestern in der Türkei. Vielen Dank für das Gespräch!
Güzeldere: Ich danke Ihnen!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.