Ulrich Schacht: "Notre Dame"

Das Glück ist nicht mit einem Maß zu messen

Ulrich Schachts Roman "Notre Dame". Im Hintergrund: ein Foto aus Leipzig nach der Wende.
Das immens Politische und das höchst Intime sind in Ulrich Schachts Roman "Notre Dame" nicht mehr voneinander zu trennen. © imago/Jochen Tack/Aufbau
Von Rainer Moritz |
Die Qualität von Ulrich Schachts Wenderoman "Notre Dame" liegt darin, das Ringen des Protagonisten um den Sinn des Lebens in allen Schattierungen und mit hoher sprachlicher Eleganz einzufangen. Manchmal etwas zu weitschweifig, aber trotzdem äußerst lesenswert.
Herbst 1989. Der Journalist und Lyriker Torben Berg will seine Begeisterung mit aller Welt teilen, denn endlich ist eingetreten, wovon er jahrelang träumte: Das verhasste Regime der DDR, das ihn in den 70er-Jahren wegen sogenannter staatsfeindlicher Hetze ins Gefängnis steckte, bricht zusammen.
Berg ist 1951 geboren, wie Ulrich Schacht, und auch sonst weisen die Lebensläufe von Protagonist und Autor zahlreiche Parallelen auf. 1976 vom Westen freigekauft, kommt Berg nach Hamburg, studiert dort und wird Zeitungsredakteur.
In dieser Funktion reist er nach dem Mauerfall sofort Richtung Leipzig, lauscht dem Konzert eines namenlos bleibenden Bänkelsängers und saugt die Atmosphäre der "Heldenstadt" begierig in sich auf. Doch mit einem Mal verschieben sich die Prioritäten. Was politische Befreiung und Neuanfang bedeutet, sorgt im Privaten für eine völlige Konfusion, die Bergs bisheriges Leben in Frage stellt. Denn im aufgewühlten Leipzig verliebt er sich in die junge Studentin Rike.

Das Politische und Intime sind untrennbar

Er versucht die Affäre anfangs zu vertuschen, lässt die nichtsahnende Ehefrau Karla nebst Tochter Charlotte im Ungewissen und droht an diesem Zwiespalt zu zerbrechen. Zwar empfindet er "Triumph und Glück" angesichts des politischen Umsturzes, der ihn für eine TV-Dokumentation über sein Leben in die Heimatstadt Wismar zurückführt, doch die Liebe zu Rike verändert die Perspektive. Sie ist "eine aus heiterstem Himmel über ihn gekommene Macht, die durch seinen Körper raste, wirbelte, ihn fortriss von allem, was ihn bisher angetrieben hatte".
Ulrich Schacht schreibt mit hohem Einsatz. Das immens Politische und das höchst Intime sind nicht mehr voneinander zu trennen. Erst der Rückblick soll für Klarheit sorgen, und so sehen wir am Romananfang Torben Berg im Flugzeug nach Paris.
In seiner Sehnsuchtsstadt, die er auch mit Rike besuchte, will er die Silvesternacht 1991 allein verbringen; von dort schaut er zurück auf zwei Jahre, die sein Leben veränderten. Schacht, der bislang vor allem Lyrik, Essays und Erzählungen vorlegte, geht in seinem Debütroman geduldig allen Nebenwegen nach, auf denen sich sein von Liebesrausch und Liebeswahn erfüllter Held begibt.

Hohe sprachliche Eleganz

Reisen führen ihn nach Schottland und auf die Färöer-Inseln, Erinnerungen in die beklemmende Vergangenheit. Um nichts weniger als um den "Sinn seines Lebens" geht es Berg, und die Qualität dieses Romans liegt darin, das Ringen darum in allen Schattierungen und mit hoher sprachlicher Eleganz einzufangen.
Manches in diesem Roman ist vielleicht zu weitschweifig geraten, und manchmal darf man bezweifeln, ob Bergs Besessenheit von seiner neuen Liebe der alten Liebe in Hamburg genug Gerechtigkeit widerfahren lässt. An der Kühnheit des Schacht’schen Experiments ändert das wenig: Das Glück ist nicht mit einem Maß zu messen; die Wendejahre und die Studentin Rike bescheren Hochgefühle ganz unterschiedlicher Art, und beide Male muss Torben Berg Wege finden, diese zu sortieren und richtig einzuordnen.
Wovon Menschen überwältigt und gepackt werden, das lässt sich nicht vorhersagen – und vermutlich nur durch ein Erzählen inszenieren, das sich dem Chaos solcher Emotionen stellt und nicht so tut, als ließe sich das Durcheinander rasch und geräuschlos beseitigen. Das allein macht "Notre Dame" lesenswert.

Ulrich Schacht: "Notre Dame"
Aufbau Verlag, Berlin 2017
431 Seiten, 22.00 Euro

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