Ungarn

"Wir Roma sind nur Bürger zweiter Klasse"

Eine Familie der Roma-Minderheit repariert ihr Haus.
Eine Familie der Roma-Minderheit repariert ihr Haus. © Deutschlandradio / Jan-Uwe Stahr
Von Jan-Uwe Stahr |
Etwa 700.000 Ungarn gehören zur Minderheit der Roma: Sie bilden sieben Prozent der Bevölkerung, leben jedoch oft isoliert an den Rändern von Städten und Dörfern in extremer Armut. Hilfe zur Selbsthilfe wollen deutsche Handwerker leisten.
Ein kalter Wind weht über das Wiesengelände, pfeift durch das halb abgedeckte Dach eines gelb-roten Lehmziegelhauses. Es ist ziemlich ungemütlich, hier draußen an der Hauptstraße von Felsödobsza, einem Dorf in Ungarns armem Nordosten. Doch die Leute im Hof der "Kossuth utca 76" scheint das nicht zu bekümmern...
Drei Mädchen und ein Junge hocken am Boden. Daneben stehen zwei ältere Frauen. Sie alle klopfen mit kleinen Hämmern Zementreste von alten Ziegelsteinen, legen sie anschließend in zwei bereitstehende Schubkarren. "Immer schön vorsichtig", mahnt eine der beiden älteren Frauen.
Erzsi Molnar trägt nur einen Trainingsanzug, braun wie ihr faltiges Gesicht. Auch ihre arbeitenden Kinder haben nur dünne Hosen und T-Shirts an, trotz des eisigen Windes. Nur eine Frau in der Runde trägt ein dickes warmes Flanellhemd, eine feste Outdoor-Hose und Handschuhe.
"Wir bereiten die Backsteine vor für den Schornstein, der soll wieder aufgebaut werden. Und deswegen muss das hier gemacht werden. Das macht Wilfried, der Maurer. Wir sind die Hilfsarbeiter."
"Ein Teil des Hauses ist damals zusammengebrochen"
Ulla Redecker kommt aus Schleswig-Holstein. Der angesprochene Maurer heißt Wilfried Fiestelmann und ist aus Ostwestfalen. Zusammen mit fünf anderen Deutschen sind sie in das ungarische 1000-Einwohner-Dorf Felsödobsza gekommen, um der Familie Molnar bei der Reparatur ihres Hauses zu helfen.
In nur acht Tagen soll das baufällige Lehmhaus der Molnars instand gesetzt werden. Das heißt: Dach- und Dachstuhl müssen repariert, zwei Schornsteine neu gemauert und eine Außenwand stabilisiert werden. All das in enger Zusammenarbeit mit den Bewohnern des Hauses. Sie gehören zu der ungarischen Minderheit der Roma.
"Wir sind eine sehr große Familie", sagt Erzsi Molnar und legt vorsichtig einen sauber abgeklopften Ziegelstein in die Schubkarre. "Ich habe 18 Enkel und fünf Kinder, drei Jungs und zwei Mädchen."
Neun Personen der Familie wohnen in den zwei Zimmern des alten Lehmziegelhauses. Fließendes Wasser gibt es hier nicht, ein einfaches Plumpsklo steht im Garten. Die Rückseite des Hauses ist mit einer schiefen, unverputzten Wand provisorisch verschlossen. Vor fünf Jahren wurde das Gebäude teilweise zerstört. Von zwei Hochwassern aus dem nahegelegenem Fluss.
"Ein Teil des Hauses ist damals zusammengebrochen", sagt Großmutter Erzsi. "Das Badezimmer war weg. Und danach kam das Wasser auch noch in die Küche, bis zum Esstisch."
Den Roma-Familien neue Hoffnung geben
Lediglich zwei Säcke Zement und ein wenig Sand bekam die Familie Molnar damals von der Gemeinde. Aus zusammengesammelten Steinen bauten sie eine notdürftige Rückwand für das teilweise zerstörte Haus. Das war's. Doch nun bekommt die Roma-Familie Unterstützung von der "Heimstätte Dünne", einer 100 Jahre alten Organisation aus Ostwestfalen, die auf soziale Selbsthilfeprojekte und Lehmhausbau spezialisiert ist. Fünf Jahre will man in Felsödobsza mit anpacken, sagt Dietrich von Bodelschwingh, pensionierter Pfarrer und Initiator des Projektes:
"Es gibt in diesem Dorf etliche Häuser, die vom Zusammenbruch bedroht sind. Im Wesentlichen sind es die Dächer, die sind völlig regendurchlässig. Die haben sie oft mit Plastiktüten verklebt anstelle der fehlenden Dachpfannen. Aber es regnet trotzdem ständig durch und eigentlich muss man damit rechnen, dass im nächsten Winter das ganze Haus zusammenbricht. Das ist vermutlich auch öfters geschehen."
Das Ziel der Helfer ist es, den ungarischen Roma-Familien neue Hoffnung zu geben, damit sie nicht abwandern müssen - zum Beispiel nach Deutschland. Wie es schon viele Roma aus den Ländern des Westbalkans getan haben.
Roma in Felsödobsza reparieren ihre Häuser mit der Unterstützung durch freiwillige deutsche Handwerker.
Roma in Felsödobsza reparieren ihre Häuser mit der Unterstützung durch freiwillige deutsche Handwerker.© Deutschlandradio / Jan-Uwe Stahr
Etwa sieben Prozent der ungarischen Gesamtbevölkerung zählen zur Minderheit der Roma - also rund 700.000 Menschen im Land. Die meisten der "Cigany", wie sie sich auch selber nennen, leben am gesellschaftlichen Rand. Die Arbeitslosenquote beträgt 50 bis 100 Prozent – je nach Region. Kindergeld und Sozialhilfe sind für viele das einzige Einkommen. Ausbezahlt wird die Sozialhilfe allerdings nur, wenn die Empfänger mindestens drei Monate im Jahr im sogenannten Gemeinde-Arbeits-Programm mitmachen. Doch die Mittel für das Programm wurden gekürzt.
"Man muss auf Knien bitten, wenn man einen Job beim Gemeinde-Arbeitsprogramm abbekommen will",
sagt Erzsi Molnar, die monatlich gerade mal umgerechnet 200 Euro zur Verfügung hat – für die ganze Familie. Wer keinen Job bekommt, muss hungern und im Winter frieren. Oder sich Nahrung, Heizmaterial oder Geld auf andere Weise beschaffen. Der Weg in die Kriminalität ist dann oftmals vorgezeichnet. Das bestätigt die Vorurteile der Mehrheitsbevölkerung gegen die Roma und verstärkt wieder die Ablehnung und schürt den Hass. Davon profitieren in Ungarn radikale politische Kräfte, wie die als rechtsextrem geltende Jobbik-Partei. In zahlreichen Kommunen stellt Jobbik bereits den Bürgermeister. Auch in Ózd. Einer daniederliegenden Industriestadt – etwa 70 Kilometer von Felsödobsza entfernt.
Jobbik-Bürgermeister: "Ohne sie wäre es einfacher"
Die Abriss- und Umbauarbeiten auf dem alten Industriegelände in Ózd laufen auf vollen Touren. Aufwändig und liebevoll werden historische Fabrikgebäude restauriert – mit Fördermitteln aus der bei Jobbik so verhassten Europäischen Union. Ein Innovations- und Gründerzentrum soll hier entstehen für einen wirtschaftlichen Neustart der Stadt.
Allerdings haben viele der qualifizierten Facharbeiter die alte Stahlstadt längst verlassen. Die Einwohnerzahl sank in den vergangenen 15 Jahren von einst 40.000 auf jetzt 34.000. Geblieben sind dagegen die vielen ungelernten, ehemaligen Industriearbeiter – zumeist Roma. Sie und ihre kinderreichen Familien stellen heute ein Drittel der Bevölkerung. Sie sind von Dauerarbeitslosigkeit, wirtschaftlicher und sozialer Verelendung besonders stark betroffen. David Janiczak, der neue 28-jährige Bürgermeister von Jobbik, möchte diese Mitbürger am liebsten loswerden. Das sagt er ganz offen:
"Wir sollten nicht darum herumreden, denn unglücklicherweise sind die meisten dieser destruktiven Menschen Zigeuner. Ohne sie wäre es einfacher die Stadt zu entwickeln. Denn wir müssten dann weniger Geld für Sozialleistungen ausgeben. Das Leben wäre einfacher, die Leute hätten keine Angst auf die Straße zu gehen."
Der Jobbik-Bürgermeister setzt das repressive Anti-Roma-Programm seiner Partei in Ózd in die Praxis um: Die Arbeitsbedingungen im staatlichen Gemeinde-Arbeitsprogramm wurden brutal verschärft. Eine Videoüberwachung der Roma-Siedlungen installiert. Wer Kritik an seiner Politik übt, den zitiert der Bürgermeister in die Gemeindeverwaltung. An konstruktiven Lösungen für die problembeladene Roma-Minderheit besteht offensichtlich kein Interesse. Dabei gäbe es in den armen Roma-Familien ein wichtiges Zukunftskapital: Viele Kinder. Was in ihnen steckt, zeigt die Psychologin und Filmemacherin Kriszta Bodis.
Im Van-Helyed-Studio in Ozd unterstützt die Budapester Filmemacherin Kriszta Bodis Roma-Schüler.
Im Van-Helyed-Studio in Ozd unterstützt die Budapester Filmemacherin Kriszta Bodis Roma-Schüler.© Deutschlandradio / Jan-Uwe Stahr
"Van Helyed" – zu deutsch: "Ein Platz für Dich" - so heißt das pädagogische Zentrum, mitten im alten Industriegebiet, direkt gegenüber einem verrottenden Kraftwerks-Kühlturm. Die Budapester Filmemacherin Kriszta Bodis hat es vor gut einem Jahr gegründet - mit finanzieller Hilfe einer dänischen Stiftung. Van Helyed ist ein Platz für benachteiligte Kinder und Jugendliche aus den Ózder Roma-Siedlungen.
Nach ihrem regulären Schulunterricht werden sie aus fünf verschiedenen Schulen abgeholt und in das Van Helyed gefahren. Hier bekommen sie etwas Gesundes zu Essen. Die hellen, farbenfrohen und gepflegten Räumlichkeiten bieten den Kindern eine ihnen bisher unbekannte, häusliche Umwelt:
"Normalerweise kommen die Kinder aus Wohnungen, wo es kein fließend Wasser gibt und keine Toiletten",
sagt die Filmemacherin, die sich in Ózd schon seit gut 15 Jahren für die stigmatisierten Roma einsetzt. Wer im "Van Helyed"-Zentrum aufgenommen werden will, muss sich bewerben und nach Einschätzung der hier tätigen Pädagogen und Sozialarbeiter entwicklungsfähig sein. Jedes der Kinder und Jugendlichen im Alter zwischen neun und sechzehn wird einem persönlichen Betreuer oder einer Betreuerin anvertraut und in Spiel- und Lerngruppen gezielt unterstützt, erläutert Kriszta das Konzept.
"Damit die Kinder aus dieser Spirale ausbrechen"
"Da auch Kinder, die sehr begabt sind, die Grundschule nicht beenden oder wenn doch, nur sehr geringe Chancen haben, eine weiterführende Schule - geschweige denn eine Hochschule - erfolgreich zu absolvieren, ist es unser Ziel, diese Situation zu ändern, damit sie aus dieser Spirale ausbrechen können, damit Armut nicht immer wieder Armut erzeugt. Dies ist der einzige Weg."
Die öffentlichen Schulen sind mit den "Ghetto-Kids" überfordert, sagt Kriszta. Gerade dort, wo viele Roma sind, mangelt es an engagierten Lehrern. Die Folge: Die Kinder erleben schon früh ein soziales Klima des Desinteresses und der Ablehnung. Das nimmt ihnen den Mut und die Motivation. Hier setzen die Psychologin Kriszta Bodis und ihr Team an.
"Besonders wichtig ist es, ihr Selbstwertgefühl zu stärken. Denn es gibt auch ein riesiges Problem bezüglich ihrer Identität als Roma, denn sie schämen sich dafür. Sie haben ein negatives Selbstbild. Sie wissen nicht, dass sie gut sind, dass sie begabt sind, und es ist sehr wichtig, sie in ihrem Selbstbewusstsein zu bestärken, damit sie stolz auf sich selbst und auf ihre Leistungen sind."
Das "Van Helyed"-Projekt kann nur einer kleinen Zahl von Kindern helfen. Doch, wenn diese erfolgreich sind, die Schule und anschließend eine Ausbildung schaffen, können sie auch die anderen Familienmitglieder motivieren. Oder zumindest das Selbstwertgefühl innerhalb der Roma-Gemeinschaften stärken. Das ist die Hoffnung. Es geht um positive Vorbilder. Aber die brauchen Zeit und Ausdauer.
Der parteilose ungarische Kultusminister, Zoltan Balogh, lobt die Arbeit von Kriszta Bodis in Ózd. Denn sie passt zu der sogenannten Roma-Strategie der Regierung von Viktor Orbán. Auch Fidesz will die Heranbildung einer Roma-Elite, so ließ es die Partei offiziell verlauten. Für ihre immer stärker werdende politische Konkurrenz aus dem noch weiter rechts stehenden Lager der Jobbik-Partei, sind Roma vor allem "kriminelle Zigeuner", die bekämpft werden müssen. So wie das jetzt der Bürgermeister in Ózd versucht.
"Trotzdem habe ich viele Bekannte im Gemeindeausschuss, die der Jobbik-Partei angehören. Mit einigen haben wir sogar zusammengearbeitet, sie haben die Kommunalarbeit überwacht, und wenn ich von meinem Konzept erzähle, sind sie völlig mit mir einverstanden und sagen: "Ja, genau, so etwas müsste man machen". Es gibt hier also große Widersprüche und Absurditäten."
"Nur Bürger zweiter Klasse sind"
Die Roma loszuwerden, anstatt sie in mühseliger Arbeit zu integrieren – das versuchte auch der Bürgermeister von Miskolc, einer ebenfalls notleidenden Industriestadt im Nordosten Ungarns. Der Lokalpolitiker aus Viktor Orbáns Fidesz-Partei bot Roma-Familien eine Wegzug-Prämie von bis zu 6.000 Euro. Das ungarische Verfassungsgericht stoppte das Vorhaben. Auch Ministerpräsident Viktor Orbán missbrauchte kürzlich die Roma-Minderheit für seinen Populismus, als er sie gegen Kriegsflüchtlinge ausspielte, sagt der Budapester Roma-Aktivist Tibor Joni.
"Was mich wirklich erschrocken hat, ist, dass Viktor Orbán gesagt hat, dass eigentlich die Roma hätten genauso verteilt werden können in Europa, wie die Flüchtlinge verteilt werden sollten. Das zeigt, dass wir Roma wirklich nicht gleich sind, wirklich nur Bürger zweiter Klasse sind."
Der 26-jährige Joni gehört zu einer kleinen Roma-Elite: Sein Vater machte Karriere in der ungarischen Armee und konnte ihm eine gute Schulausbildung und ein Studium bieten. Jetzt engagiert sich der angehende Soziologe als Aktivist bei "Roma-Versitas" – einem Studentenverband, der die kulturelle Identität wiederbeleben will und die Eigeninitiative unter den Roma fördert. Dieses Ziel verfolgt auch das deutsch-ungarische Selbsthilfe-Bau-Projekt in dem nordostungarischen Dorf Felsödobsza. Dort arbeitet Tibor nun als Dolmetscher und Projektkoordinator.
Erinnerungsfotos auf der Baustelle bei Familie Molnar. Die deutschen und die ungarischen Helfer stehen hinter dem alten Lehmhaus. Das hat nun eine ansehnliche, mit Holz verschalte Rückwand und ein neu gedecktes Dach. In nur acht Tagen wurden alle Arbeiten abgeschlossen. Die jungen Roma haben gemerkt, dass die Deutschen ihnen etwas zutrauen. "Ich durfte mit allen Werkzeugen arbeiten", sagt der 14-jährige Tibi stolz."
"Mit dem Akku-Schrauber, mit der Flex, mit dem Hammer und auch mit der Motorsäge." Zwei Jahre muss Tibi noch zur Schule gehen. Was er danach werden möchte, steht für ihn jetzt schon fest: "Ich möchte Maurer werden."
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