Unterwegs mit den Wunderfindern

Armut mit Wundern bekämpfen

Ein kleines Mädchen betrachtet einen beleuchteten Globus, aufgenommen am 13.12.2009 in Straubing (Niederbayern).
Kind mit beleuchtetem Globus © dpa / Armin Weigel
Von Karoline Knappe |
Leipzig wächst, Leipzig ist hip und jung. Das macht die Stadt nicht wohlhabender. Die Kinderarmut ist gravierend: Ein Drittel aller Kinder gilt als arm. Im Vergleich: In Deutschland wird jedes fünfte Kind als arm gezählt. Das Projekt Wunderfinder soll helfen.
Die Einfahrt zur Leipziger Red Bull Arena liegt an einer stark befahrenen Straße. Hier treffen sich die Wunderfinder-Kinder Marie und Finn, beide um die zehn Jahre alt, mit ihrem Paten René Rübner. Ein heiß ersehnter Termin.
Rübner: "Seit nem dreiviertel Jahr haben sie mich immer wieder angebettelt, dürfen wir denn mal in dieses Stadion von RB Leipzig gucken und ich musste jedes Mal sagen, nee, das kriegen wir wahrscheinlich nicht hin – und deswegen ist es jetzt außergewöhnlich, dass wir das dürfen, oder?"
Kinder: "Ja."
Rübner: "Und freuen uns schon wahnsinnig."
Die Führung durch das Stadion übernimmt Claudia Barth.
Barth: "Wir gehen jetzt einmal durchs Stadion durch – und was denkt Ihr, was wir uns alles angucken?"
Marie: "Die Tribüne."
Finn: "Das Feld."
Marie: "VIP-Bereich."
Barth: "Die Tribünen – Gästekabine, Heimkabine, genau, wir gehen mal los."
Zunächst geht es in den Pressekonferenzraum. Finn und Marie in RB-Trikots sind bestens vorbereitet.
Barth: "Hier sitzt immer der Herr Hasenhüttl, der Trainer, und wer saß denn hier zuletzt? Vorletztes Heimspiel? Das ist ein Trainer, die wohnen im Süden von Deutschland, die sind leider auf Platz 1..."
Finn: "FC Bayern."
Barth: "Genau, der Herr Ancelotti saß hier und hat erklärt, warum das so ein wahnsinnig tolles Spiel war."
Finn: "Aber leider haben sie verloren!"
Barth: "Aber nur ganz knapp."
Finn: "Ja, weil die ja noch fünf Minuten nachgespielt haben!"
Barth: "Sehr schön!"
Finn: "Die hätten zwei Minuten Nachspielzeit geben – dann wär's unentschieden ausgegangen!"
Barth: "Du hast Recht!"
Dann geht es weiter Richtung Spielfeld. Dort wird gerade der Rasen gemäht.
Barth: "Jetzt verrate ich Euch aber ein Geheimnis: Wisst Ihr, dass eigentlich hier zwei Stadien stehen?"
Pate und Kinder: "Was???"
Barth: "Nein? Das ist ein Geheimnis."
An der Stelle der Red Bull Arena wurde in den 50er-Jahren das Zentralstadion erbaut – für unglaubliche 100:000 Zuschauer. Das heutige Stadion entstand in den nuller Jahren zur Fußballweltmeisterschaft – und wurde quasi in das alte hinein gebaut.
Barth: "Schaut mal dort durch die Lücke durch. Seht Ihr den Rasen?"
Kinder: "Ja."
Barth: "Müsst Ihr Euch vorstellen, das ist wie so'n großer Berg, wie so'n Ring. Der ist hier einmal um das Stadion drumrum."
Rübner: "Meiner Erfahrung nach ist es so, dass die Kinder meistens oder fast immer mit großen Augen dann dastehen und gar nicht fassen können, was für Wunder wir hier in dieser Stadt so haben, dass wir ein Stadion haben, das in einem anderen Stadion gebaut wurde. Das ist ja was Fantastisches, wovon Kinder ja gar nicht zu träumen wagen! Oder dass eine Feuerwehrleiter nicht nur fünf Meter es hoch schafft, sondern 50, 60 Meter!"
Solche Entdeckungen zu machen, gemeinsam Orte zu entdecken, die die Kinder sonst nie kennen lernen würden und sie damit auf neue Ideen zu bringen – das ist das Ziel der Wunderfinder, erklärt Projektleiterin Eva Riemer.
Riemer: "Manchmal müssen es gar nicht die allergrößten Orte sein, sondern es ist dann gerade dieses: Ein Labyrinth in einem Park zu entdecken, oder auf einen großen Turm zu steigen, gemütlich ein Picknick zu machen – also solche Sachen, so diese Zeit miteinander zu haben."

Wunderfinder waren schon in der Oper und beim MDR

So haben die Wunderfinder schon die Kleiderkammer der Oper Leipzig durchstöbert, die MDR-Fernseh-Studios kennen gelernt, im Musikinstrumentenmuseum Instrumente ausprobiert – aber auch einem Bäcker über die Schulter geschaut und im Park eine Schatzsuche veranstaltet.
Mit fünf Horteinrichtungen aus sozial eher prekären Vierteln arbeitet die Stiftung Bürger für Leipzig im Wunderfinderprojekt zusammen. Vier davon liegen im Osten der Stadt, ein Hort ist in Grünau.
Dass ein Pate bei den Exkursionen allein mit seinen Wunderfinder-Kindern unterwegs ist, so wie heute René Rübner, das ist nicht immer so – und auch nicht von Anfang an.
Riemer: "Wir sind am Anfang immer in der Gruppe unterwegs, wir treffen uns auch immer erst als Gruppe im Hort, und man kann immer in dieser Gruppe Exkursionen unternehmen. Also man wird da nicht allein gelassen."
In einem Schuljahr geht es insgesamt fünf Mal auf Exkursion. Jeder Ausflug wird eine Woche später nachbereitet. Die Kinder bekommen dafür eine kleine Exkursionsausrüstung, darunter ein Heft, in das sie Eintrittskarten einkleben und Bilder malen können. So kann das Erlebte sacken und die Kinder bekommen die Möglichkeit, einmal in Ruhe darüber nachzudenken, was ihnen gefallen hat, was ihnen liegt und was sie sich auch für sich in Zukunft vorstellen können, erklärt Eva Riemer. So sollen kleine Impulse gesetzt werden, die den Kindern später helfen, zum Beispiel bei der Berufswahl.

Kinder kommen aus dem Hort zu den Wunderfindern

Welche Kinder eines Grundschulhorts als Wunderfinder-Kinder infrage kommen, entscheiden die jeweiligen Hortbetreuer. Denn sie kennen die Kinder am besten.
Riemer: "Das Kriterium ist zum einen der Förderbedarf tatsächlich, also von wie können sich die Kinder darstellen, können sie sprechen, sich artikulieren – also wie viel Förderbedarf haben sie da -, aber es geht dann auch darum, also die Kinder sind ja immer Teil einer großen Gruppe und viele gehen da unter und buhlen richtig um Aufmerksamkeit. Und deshalb also auch mal diesen Kindern die Möglichkeit zu geben, so alleine im Fokus zu stehen – und dafür ist dieses Projekt sehr gut, weil die Kinder dann wirklich mit einem Erwachsenen, der nur für sie da ist, unterwegs sind, und das schätzen sie sehr."
Kinder: "Boa, das stinkt ganz schön!"
Finn und Marie waren im vergangenen Schuljahr zwei von 70 Grundschulkindern, die als Wunderfinder mit ihren insgesamt 35 Paten unterwegs waren. Unter ihnen sind Studenten und Rentner, aber auch voll Berufstätige, die sich extra Zeit für die Kinder nehmen – so wie René Rübner.
Und was so stinkt, das sind die Duschräume der roten Bullen.
Barth: "Wir sind jetzt hier in den Duschen, nach dem Spiel, jeder Spieler, der gespielt hat, muss in die sogenannte Eistonne. Habt Ihr das schon mal gehört?"
Kinder: "Nein."
Barth: "Das ist die Eistonne. Also eigentlich heißt's richtig Kaltbecken, ja, ist ein Whirlpool – schätzt mal, wie viel Grad Celsius..."
Finn: "Minus!"
Marie: "Null!"
Barth: "Also Ostsee ist warm dagegen, aber es sind keine Minusgrade."
Marie: "Zehn Grad?"
Barth: "Zehn Grad. Wunderbar. Zehn Grad kaltes Wasser und die müssen drei Minuten dort hineingehen."
Autorin
Statt eines Eisbads geht es nun noch hinauf zu den VIP-Plätzen und den Sky-Boxen. Von hier aus kann man nicht nur das gesamte Stadion, sondern auch die ganze Stadt überblicken.
Und Finn und Marie probieren aus, wie weit ihr Fan-Ruf zu hören ist.
Der Mann, der ganz unten, auf der anderen Seite des Spielfelds steht, hört die beiden.
Für Finn und Marie ist ganz klar: Der Ausflug ins RB-Stadion ist der Höhepunkt all ihrer Wunderfinderexkursionen. Im Anschluss an was an diesen Ausflug? treffen sich alle Wunderfinder-Kinder und ihre Paten noch zum gemeinsamen Sommerfest im Park. Sie grillen, spielen Ball, erzählen und schließen Hoola-Hoop-Wetten ab:
Rübner: "Okay, wetten ich halt länger? Und los."
Kind: "Hey, das zählt nicht! Mann, das zählt nicht!"
Finn, Marie und René erzählen, wie sie sich vor einem knappen Jahr kennen gelernt haben.
Rübner: "Ich hab mir gedacht, ich hab aber coole Wunderkinder abbekommen, wahrscheinlich die coolsten Wunderkinder von allen (lacht) – und was habt Ihr gedacht?"
Marie: "Ich hab gedacht: Hä? Ich dachte, wir kriegen ne Frau!
Wir haben jetzt wirklich gedacht, weil alle anderen ne Frau kriegen, René ist der einzige Mann bei uns!"
René Rübner genießt die Zeit mit "seinen" Kindern. Andere Paten, wie etwa Renate Seidel, hatten aber auch schon ihre Schwierigkeiten.
Seidel: "Das war schon für mich teilweise gewöhnungsbedürftig – wegen der Disziplin."
Die Kinder seien laut und unruhig gewesen, erzählt sie.
Seidel: "Also was mich manchmal gestört hat, dass die sich nicht konzentrieren können. Also das muss alles so – grapschen, weg oder so, aber das ist vielleicht auch, weil sie zuhause nicht so die Ruhe haben."

Die Kinder sind nicht einfach

Die Kinder seien eben nicht die einfachsten, bestätigt Projektleiterin Eva Riemer. Viele ihrer Eltern würden sehr viel arbeiten, um den Kindern vor allem materiell viel bieten zu können. Gemeinsame Zeit sei da oft knapp. Daher wären die Eltern froh über die Förderung, die ihr Kind durch das Wunderfinder-Projekt bekäme. Und Eva Riemer ist überzeugt, dass die Kinder auch längerfristig von ihrem Wunderfinder-Jahr profitieren.
"Das ist vielleicht nur ein i-Tüpfelchen, aber wir haben das Projekt ja extra so gelegt, dass es am Anfang der Schulphase ist. Und wenn sie da schon beginnen, sich ein Ziel zu setzen, oder wenn sie da schon solche schönen Momente haben, dann glauben wir, kann ihnen das sehr gut helfen auf ihrem weiteren Schulweg."
Und bis Paten und Kinder sich aneinander gewöhnt haben, bräuchte es dann eben manchmal etwas Zeit. Eine Erfahrung, die auch Renate Seidel gemacht hat, als sie im vergangenen Winter mit ihren Patenkindern auf dem Weg ins Museum der bildenden Künste war.
Seidel: "Ich war bisschen nervös, hab dann an den Händen gefroren, und da hab ich gesagt: oh, ich friere so! Und da ist so ne kleine Kinderhand gekommen und hat mir die Hand gewärmt. Das hat mir so gefallen!"
Und deshalb will sie genauso wie René Rübner im kommenden Schuljahr wieder eine Patenschaft übernehmen. Für René, Finn und Marie heißt es nun Abschied nehmen.
Finn: "Du könntest ja mit uns telefonieren und uns mal besuchen kommen."
Rübner: "Also auf jeden Fall werd ich Euch erstmal die Bilder von unserer heutigen Stadiontour zeigen."
Finn: "Aber kannst Du uns Deine Adresse geben?"
Rübner: "Ja, das kann ich auf jeden Fall machen."
Marie: "René! Aber wir sind doch immer die besten Wunderfinderkinder, oder?"
Rübner: "Das glaub ich auch."
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