Bleibt das Buch auf der Strecke?
Ein Blick in die U-Bahnen und ICEs der Nation zeigt es: Kaum jemand liest - jedenfalls kein Buch - alle Welt starrt aufs Handy. Anfang des Jahres wurde die gefühlte Wahrheit in Zahlen gegossen: Eine über mehrere Jahre geführte Studie zeigt, dass tatsächlich immer weniger Menschen Bücher lesen.
Der am häufigsten genannte Grund: keine Zeit zwischen all den guten Serien, den Tweets und Facebook-Filmchen. Die Buchbranche allerdings ist Untergangsmeldungen gewohnt: Vor ein paar Jahren waren es die großen Buchhandelsketten, die sich kleine Buchhandlungen einverleibten, dann kamen Amazon und das E-Book.
Doch nun sieht es nach einem noch grundlegenderen Kulturwandel aus - es geht nicht mehr darum, wo die Bücher gekauft werden oder in welcher Form gelesen wird, sondern ob überhaupt. Beatrice Faßbender und Ulrich Rüdenauer haben bei Verlegerinnen und Verlegern sowie bei anderen Fachleuten nachgefragt, ob es dieses Mal wirklich ernst ist und wie sie sich die Zukunft des Lesens vorstellen.
Das Feature zum Nachlesen:
Hört man sich – zum Beispiel auf der Frühjahrsbuchmesse in Leipzig – unter Verlegern um, wie sie die Stimmung in der Branche empfinden, schwingt in den Antworten alles Mögliche mit: von Zweckoptimismus über Untergangsstimmung bis Galgenhumor.
(Stefan Weidle, Weidle Verlag:) "Wir müssen nochmal ganz neu ... nicht neu anfangen, aber doch anders anfangen und nochmal unsere ganzen Kräfte bündeln und uns auf die Hinterbeine stellen und zeigen, dass Lesen etwas Großartiges ist und dass Bücher was Tolles sind. Das müssen wir möglichst weit in die Jugend hineintragen."
(Christian Kill, Liebeskind Verlag:) "Der Markt befand sich ja immer schon im Umbruch, seit 20 Jahren, aber wir wissen ja mittlerweile, dass die Leser wegbrechen, und das gibt einem dann doch zu denken. Ich weiß nicht, ob es einen Verlag wie den Liebeskind Verlag in zehn Jahren noch geben kann. Ich lass mich aber überraschen."
(Ulrike Ostermeyer und Daniel Kampa, Kampa Verlag:) "Ist ne schöne Messe, sind tolle Begegnungen, es geht wieder um was, wir haben wichtigere Themen als in den letzten Jahren zum Teil, finde ich. Viele junge Leute auch, sehr schön."
Was ist denn nun richtig? Ist die Stimmung unter Büchermachern tatsächlich gut? Grandios sogar? Oder so mies, dass man sich in Zynismus retten muss? Steuert die Buchbranche vielleicht doch der Titanic gleich auf den Eisberg zu – und die Besatzung fiedelt kräftig, damit der drohende Untergang nicht ganz so offensichtlich wird?
Zum Lesen bleibt immer weniger Zeit
Schönreden jedenfalls hilft nicht – die Diagnose scheint eindeutig: Der Buchmarkt steckt in einer Krise. Welches Ausmaß sie hat, ist noch nicht so recht abzusehen. Sicher ist nur, dass es sich wohl nicht um das auf- und abschwellende Gejammer handelt, das seit seinen Anfängen zum Verlagswesen dazu gehört. Man erinnere nur an einen Unkenruf aus dem Jahr 1926, von keinem geringeren als dem Verleger Samuel Fischer:
"Das Buch gehört augenblicklich zu den entbehrlichsten Gegenständen des täglichen Lebens. Man treibt Sport, man tanzt, man verbringt die Abende am Radio oder im Kino."
Heute sieht sich das Buch allerdings einer noch größeren und mächtigeren Konkurrenz gegenüber: Wir verbringen Stunden mit dem Smartphone, auf Facebook, Twitter, Instagram & Co., surfen durch die ganze Welt, hocken nächtelang vor Computerspielen und streamen ganze Netflix-Serien gleich am Stück. Dazu ein riesiges, auch nicht-digitales Freizeitangebot. Da bleibt zum Lesen immer weniger Zeit. Was lange nur ein Gefühl war, wird jetzt durch Zahlen belegt. Im Januar 2018 veröffentlichte der Börsenverein, der spartenübergreifende Verband der Buchbranche, eine von ihm in Auftrag gegebene Studie. Die Ergebnisse erschütterten die Buchwelt:
"Von 2012 bis 2016 gingen dem Buchhandel laut dem Marktforschungsunternehmen GfK 6,1 Millionen Buchkäufer verloren. Die Käuferreichweite – der Anteil der Bevölkerung, der Bücher kauft – sank von 54,5 Prozent im Jahr 2012 auf 45,6 Prozent im Jahr 2016, also um knapp neun Prozentpunkte. Die Zahlen für das erste Halbjahr 2017 zeigen, dass sich der Trend fortsetzt."
Und damit nicht genug. Anders als in den Jahren zuvor scheint es inzwischen eine Korrelation zwischen Käuferschwund und geringerer Buch-Leseaktivität zu geben:
"Während [...] 2013 noch 38 Prozent der Befragten erklärten, täglich oder mehrmals wöchentlich ein Buch in die Hand zu nehmen, waren es 2017 nur noch 32 Prozent."
Die Umsätze sind stabil - noch
Dass die Umsätze vergleichsweise stabil geblieben sind, ist den verbliebenen gut 30 Millionen Deutschen zu verdanken, die mehr oder auch teurere Bücher als bisher gekauft haben.
So kann sich Heinrich Riethmüller, Buchhändler aus Tübingen und Vorsteher des Börsenvereins – nicht nur weil das seine Aufgabe ist –, in vorsichtigem Optimismus üben:
(Heinrich Riethmüller:) "Wir haben immerhin in den letzten zehn Jahren unseren Umsatz ungefähr bei 9,3 Milliarden Euro halten können, trotz Digitalisierung, trotz der Herausforderungen, und das ist eigentlich auch eine positive Botschaft, die man schicken kann, auch wenn der Markt letztes Jahr und vorletztes Jahr ein bisschen schwieriger gewesen ist."
Pessimistischere Naturen erschreckt ein Detail der Studie besonders: Dass vor allem ältere Leser dafür sorgen, dass die Umsätze nicht so kräftig einbrechen, wie der Käuferschwund es erwarten ließe. Die 25- bis 50-Jährigen dagegen gehen dem Buch zunehmend verloren und damit die älteren Leser und Buchkäufer von morgen.
(Heinrich Riethmüller:) "Das sind die Menschen, die im Beruf stehen, die Karrieren nachgehen müssen, die Familie haben, die einfach schlicht und ergreifend weniger Zeit haben."
Neben der allgemein knapp bemessenen Zeit nennen Befragte in der Studie weitere Ursachen dafür, dass sie weniger Bücher kaufen und auch lesen. Darunter eine abnehmende gesellschaftliche Bedeutung von Büchern, Aufmerksamkeitsdefizite durch information overload, Abhängigkeit von digitalen Medien, verminderte Konzentrationsfähigkeit, die immer kürzer getaktete digitale Welt.
(Heinrich Riethmüller:) "Jeder fühlt sich gehetzt und unter Druck gesetzt. Und wenn man die WhatsApp-Gruppe einfach nicht bedient, dann ist man abgehängt."
Doch gibt es aus Sicht der Verlage und Buchhändler auch Licht am Horizont, wenn auch ein noch etwas diffuses.
(Heinrich Riethmüller:) "Also, jeder, der gefragt wurde, sehnt sich eigentlich nach dem alten Zustand zurück. Wie war das doch schön, als ich tatsächlich jede Woche noch ein Buch lesen konnte. Und da gilt es eben anzusetzen."
Nicht alle sehen Grund zur Panik
Auch Helge Malchow, Verleger von Kiepenheuer & Witsch, sieht keinen Grund zur übermäßigen Panik.
(Helge Malchow:) "Allerdings muss ich auch nochmal dazu sagen, dass man ja, wenn man sich die Geschichte der Entwicklung von Medien anschaut, immer wieder feststellt, dass, wenn neue Medien an die Seite vorher existierender Medien treten, die vorherigen Medien nicht unbedingt untergehen, sondern in Koexistenz mit diesen neuen Medien existieren. Und zweitens, und das ist eigentlich noch interessanter, oft erst durch die Konkurrenzmedien, die sie ablösen möchten oder die neben sie treten, die Stärken der alten Medien wahrnehmbar werden."
Außerdem sind die Kinder- und Jugendbuchabteilungen in den Buchhandlungen gut bestückt und gut besucht. Jüngere Erwachsene, so Malchow, mögen also derzeit vielleicht weniger lesen – was ein Buch ist, wissen sie aber trotzdem.
(Helge Malchow:) "Sie haben Kinderbücher gelesen, sie haben Jugendbücher gelesen, zumindest viele, auch von denen, die jetzt im Augenblick nicht mehr lesen, weil sie in den Beruf hineingehen, weil sie mit anderen Medien sich beschäftigen, die im Augenblick vielleicht auch ein bisschen mehr Hipness besitzen. Wenn alle diese neuen zusätzlichen Angebote normal, in Anführungsstrichen, werden, zur normalen Umwelt gehören werden, dann wird der Blick und die Erinnerung daran, was ein Buch einem bedeuten könnte, möglicherweise auch wiederkommen."
Zuhause fängt es an: beim Vorlesen und Vorleben. Aber natürlich kommt in diesem Zusammenhang auch Schulen, Lehrerinnen und Lehrern eine wichtige Rolle zu, besonders, aber nicht nur bei Kindern aus bildungs- und buchfernen Familien.
Für Helge Malchow, ehemaliger Deutschlehrer, ist das nicht nur eine Frage von Lehrplänen.
(Helge Malchow:) "Vielfach wird auch im Deutschunterricht der Spaß am Lesen erstickt, dadurch dass die Dauerfrage nach der Intention des Autors in einem Roman totgeritten wird und die eigene Fantasieleistung und der Spaß an der Lektüre von Seiten der Schüler nicht ernst genommen wird."
Keine umfangreiche Lektüre mehr in Schule und Studium
In einer Art vorauseilendem Gehorsam werden Schulkindern und, so ist selbst aus germanistischen Seminaren zu hören, Studentinnen und Studenten umfangreichere Lektüren oft gar nicht mehr zugemutet.
(Heinrich Riethmüller:) "Ich mein, wenn man heutzutage hört, dass sich manche Deutschlehrer schon nicht mehr trauen, zu fordern, dass man mal einen ganzen Text liest, ein ganzes Buch liest im Deutschunterricht, sondern nur noch, weiß ich was, Seite 1 bis 17 vorgegeben wird, dann ist es natürlich ein Armutszeugnis."
(Susanne Schüssler:) "Ich glaube, dass die Schulen eine der Hauptursachen sind für dieses Desaster, was wir haben, und ich sehe auch da ein großes Problem auf uns zukommen, was die zukünftige Entwicklung betrifft."
Susanne Schüssler ist Verlegerin von Wagenbach, einem kleineren Verlag mit großem Renommee. Ihre Diagnose für die Probleme des Buchmarkts setzt ebenfalls beim Lesen an.
(Susanne Schüssler:) "Ich finde es katastrophal, weil in diesen Parteiprogrammen, also, in dieser Kulturpolitik kommt die ganze Zeit vor, dass wir digitalisieren, digitalisieren und uns gut aufstellen müssen. Ich sehe nicht, dass bei den Kids irgendeiner nicht digital an erster Front ist, die sind alle super fit und schnell und können alles und wissen alles, wie sie es finden, und so weiter. […] Wenn ich aber die Lesekompetenzen ansehe, und davon lese ich nirgends irgendetwas, dass wir die Lesekompetenzen ausbauen müssen."
Die Ende 2017 veröffentlichte internationale IGLU-Studie zeigte, dass jeder fünfte deutsche Viertklässler nicht gut lesen kann. Auch zeigt die IGLU-Studie einmal mehr, wie wichtig der familiäre Hintergrund ist. Sehr vereinfacht gesagt: Lesende Eltern haben lesende Kinder. Doch was, wenn die Eltern selbst immer weniger lesen?
(Susanne Schüssler:) "Wir brauchen Botschafter für das Buch, die klarmachen, wie toll lesen ist. Und es müssten Leute sein, die auch bei jüngeren Lesern ankommen. Und das glaube ich wäre ein Weg, da müsste man länger drüber nachdenken, das ist ein ganz wichtiger Punkt scheint mir, dem Buch einen anderen Stellenwert zu geben."
(Helge Malchow:) "Also, das ist, glaube ich, eine Zukunftsaufgabe, die wir alle haben: Verlage, Kulturministerien, Schulleitungen usw., dass wir die Literatur, man kann sogar sagen, allgemeiner, die Kunst, als einen notwendigen Bestandteil einer humanen Zivilisation begreifen."
Der Untergang des Buches könnte bald bevorstehen
(Jörg Bong:)
"Wenn wir über einen Rückgang von Buchkäufern oder Lesern reden, worüber reden wir? Wir reden über tiefgehende, fundamentale kulturelle Ideen und Werke, ja: Das sind ja irre Konzepte. Ein Buch."
Jörg Bong, Leiter des traditionsreichen S. Fischer Verlags in Frankfurt am Main, macht keinen Hehl daraus, dass er die Lage für dramatisch hält. Seiner Meinung nach steht viel mehr auf dem Spiel als die wirtschaftliche Grundlage von ein paar Buchhändlern oder Verlagen.
(Jörg Bong:) "Mit dem Lesen und der Idee des Lesens, die wir haben, der Bücher von Autoren, von Gedanken, von Ideen. Damit fällt für mich das Demokratische zum Beispiel (…). Werte wie Pluralität, Meinungsfreiheit, Gedankenfreiheit, Menschenrechte, der ganze Katalog, der unsere Kultur fundiert, das ist alles verwoben."
Der Untergang des Buches mag noch nicht besiegelt sein, doch sieht Jörg Bong zumindest deutlich die Gefahr, dass dieser Untergang bevorstehen könnte.
(Jörg Bong:) "Das Lesen, das wir kennen, ist ein sehr junges Phänomen, vielleicht vom Anfang des 18. Jahrhunderts, Ende des 18. Jahrhunderts und Anfang des 19. Das kann auch vergehen, so, und wie oft hat man das gesehen, dass fundamentale kulturelle Zäsuren passierten. Selbst bei hoch entwickelten stabilen Zivilisationen, Kulturen. Und wenn Sie mich fragen, ja, ich glaube, dass wir grad so etwas erleben."
Nur das Buch, so schrieb Bong kürzlich in einem Debattenbeitrag für die Frankfurter Allgemeine Zeitung, könne der hyperkomplexen Realität unserer Gegenwart gerecht werden – kein Tweet, keine Diskussion könne ersetzen, was die Lektüre eines Buches auslöst.
(Zitat Jörg Bong:) "Beim Lesen verschmilzt der Text des Buches mit der eigenen Erfahrungswelt. Ganz eigene Bilder entstehen in permanenter Produktion durch das Gelesene, in Interaktion mit dem Gelesenen. Von der schöpferischen Kraft des Menschen hängt die Fertigkeit ab, sich die Welt anders vorstellen zu können, als sie es ist. Bücherlesen trainiert die Phantasie wie kaum etwas anderes."
Viele Kulturtheoretiker erkennen in komplex komponierten Fernseh- oder Internet-Serien eine Entsprechung der Literatur – eine Fortsetzung des Romans mit modernen Mitteln.
Jörg Bong allerdings hat seine Zweifel:
(Jörg Bong:) "Natürlich könnte man sagen, das Lesen eines Unterhaltungsromans, das Lesen eines historischen Romans, eines Krimis, ja, das übernimmt jetzt halt Netflix. Dennoch, wenn man ehrlich ist, ist es doch etwas vollkommen anderes, ob man das in Form fertiger Bilder serviert bekommt oder ob das in kompliziertesten imaginären Prozessen im eigenen Kopf entsteht."
Die Krise des Lesens gefährdet die Demokratie
Auch deshalb sei das Buch für moderne und insbesondere unter Beschuss stehende Demokratien vonnöten. In der Krise des Buchmarktes erkennen Mahner wie Jörg Bong eine fundamentale Krise der Gesellschaft und der Kultur. Eine demokratische Gesellschaft, die nicht liest, verliere eine Kulturtechnik, die zu ihren Säulen zählt. Doch was genau macht das Lesen eines Buches eigentlich aus?
Lesen ist nicht automatisch Buchlesen. Anke Vogel lehrt am buchwissenschaftlichen Institut der Universität Mainz.
(Anke Vogel:) "Man kann ja auch an ganz vielen anderen Stellen lesen. Jede Textnachricht, die ich mir über das übers Handy schicke ist, ist eine Nachricht, die gelesen werden muss."
"Vielleicht ist es kein Zufall, dass seit einigen Jahren Begriffe wie Slow Reading oder Deep Reading die Runde machen. Gemeint ist damit eine Form des Lesens, die Texte nicht nur auf Informationen hin abscannt, sondern zu den Inhalten auch komplexe Bezüge herstellt. Mit dieser vertiefenden Art zu lesen, so Anke Vogel, werden analytische und kognitive Fähigkeiten trainiert, mit denen echtes Wissen aufgebaut werden kann."
(Anke Vogel:) "Insofern würde ich eben schon sagen, dass hier tatsächlich auch so eine gewisse Gefahr für die Demokratie besteht, wenn wir dieses tiefe Lesen verlernen, dieses kontextualisierte Aufnehmen von Informationen, dieses Einbauen in Wissen, das Aufbauen von Wissen, weil dann ist uns eine Information, die ja vielleicht auch zu einer politischen Entscheidung führt in der Demokratie, da muss man fragen, was die tatsächlich dann auch wert ist.
Andere Forscher, so zeigte etwa eine Tagung der Stiftung Lesen im Jahr 2014, sprechen sich dafür aus, dem veränderten Alltagslesen positiv und offensiv zu begegnen. So sieht etwa die Germanistin Berbeli Wanning die digitale Welt als Chance für das Lesen, nicht als Bedrohung. Leseunwillige Kinder könne man so womöglich zum Lesen verführen, gerade durch die Vielschichtigkeit der digitalen Lektüre oder auch durch die Möglichkeit, Texte online gemeinsam mit anderen zu lesen und sich dabei auszutauschen.
Trotzdem erleben Lesungen einen Boom
Doch zurück zum Buch. Und zu einem ganz anderen Phänomen, das mit der beklagten Lesemüdigkeit nicht zusammenzupassen scheint: Lesungen nämlich erleben gerade einen wahren Boom, Literaturhäuser und Lesesalons florieren, Veranstaltungen auf Literaturfestivals sind Wochen im Voraus ausverkauft. Manche Autoren werden dort wie Stars gefeiert.
Die Verlegerin Susanne Schüssler findet nicht, dass dieser Trend im Widerspruch zu den Ergebnissen der Studie des Börsenvereins steht.
(Susanne Schüssler:) "Wenn die potenziellen Leser zu einer Veranstaltung gehen, dann sind sie in dem Moment schon keine Leser mehr, weil sie das Gefühl haben, sie waren ja bei der Veranstaltung, und sie wissen jetzt schon, worum es geht. […] Ich glaube nicht, dass es dem Lesen hilft, sondern dass es das Lesen eher einschränkt."
Die Literaturkritikerin Sandra Kegel hat vor einer Weile in einem Artikel zugespitzt formuliert, dass die Eventisierung der Literatur zunehme und niemand mehr die Einsamkeit der Lektüre ertrage.
(Helge Malchow:) "Aber das halte ich für totalen Quatsch diese These."
Helge Malchow von Kiepenheuer & Witsch:
(Helge Malchow:) "Seit Jahrzehnten beobachte ich ja, wie sich diese Festivals explosionsartig entwickeln. Und ich kann nur sagen, das ist ein großes Glück, weil zwar natürlich ein Spaß mit einer Veranstaltung verbunden ist, aber durch diese Art von Veranstaltung wird ja Wissen vermittelt darüber, worüber ein Autor nachdenkt, wie er Geschichten erzählt, wie interessant diese Geschichten sein könnten, wenn ich vielleicht ein anderes Buch dieses Autors zusätzlich lese, von dem ich gerade eine Lesung erlebt habe."
Für Verlage sind Festivals und Literaturveranstaltungen durchaus von Nutzen: Das Buch kann so als selbstverständliches Referenzmedium wachgehalten werden.
Die Buchwissenschaftlerin Anke Vogel fügt noch einen historischen Aspekt hinzu:
(Anke Vogel:) "Naja, also, das ist ja so ein Mythos, der irgendwie ganz gerne tradiert wird, dass Lesen eine einsame Tätigkeit wäre. Tatsächlich, wenn man in der Geschichte des Lesens zurückschaut, dann war Lesen eigentlich in den seltensten Fällen eine einsame Tätigkeit."
Schwere Fahrwasser wegen Amazon
In schwierigen Zeiten besinnt man sich auf seine Stärken – das gilt auch für den stationären Buchhandel. Der befindet sich seit Jahren im Wandel: Als die großen Handelsketten wie Thalia oder Hugendubel aufkamen, verdrängten sie viele inhabergeführte Buchhandlungen. Heute macht der Online-Händler Amazon besonders den Ketten das Leben schwer, während manche kleinere Geschäfte sich wieder etwas besser behaupten.
(Helge Malchow:) "Der Buchhandel ist ja eine Branche, die ganz extrem von der Individualität der jeweiligen Buchhändler, der jeweiligen Besitzer der Buchhandlung usw. abhängt. Wenn man eine Buchhandlung lediglich als einen Raum definiert, in dem Bücher ausliegen und in den Menschen hineingehen und sich was nehmen und wieder gehen, dann wird es da einen Rückgang geben, den man nicht aufhalten kann."
Stattdessen macht sich unter den kleinen Buchhandlungen heute vielerorts eine geradezu kämpferische Stimmung breit. In Zeiten verwaisender Innenstädte erinnern Initiativen wie Buy local die Käufer daran, dass Buchhandlungen Orte der Begegnung sein können. Dort wird zu Lesungen, Verkostungen oder langen Buchnächten eingeladen, werden Workshops oder Buchclubs organisiert. Vor allem aber findet man hier keinen Algorithmus, sondern Buchhändler, die in der Regel selbst begeisterte Leser sind. Sie sind die natürlichen Verbündeten besonders der kleineren Verlage.
(Susanne Schüssler:) "Den Buchhändler, den brauchen wir. Der ist derjenige, der die Bücher für den Leser auswählt, der einfach auch sich die Verlagsprogramme anguckt, der im Idealfall schon den richtigen Kunden für das richtige Buch im Kopf hat, wenn er das entdeckt und so weiter. Den Buchhandel, den müssen wir unterstützen, das ist das Entscheidende und das Wichtige."
Klasse statt Masse als Überlebensstrategie
Eine dieser engagierten Buchhändlerinnen ist Maria-Christina Piwowarski von der Buchhandlung Ocelot in Berlin-Mitte. Das Geschäft sieht so stylish aus, wie man es sich in dieser Gegend vorstellt – klassische Bücherregale bis unter die Decke Fehlanzeige, dafür viel Platz und ein kleines, gut besuchtes Café mit Zeitungen.
(Maria-Christina Piwowarski:) "Also das Geheimnis von einem guten Laden, das besteht meiner Meinung nach einzig und allein aus Authentizität. Dass du einfach den Kundinnen und Kunden klarmachst, dass du das, was du dir in den Laden gelegt hast, auch das ist, wohinter du stehst, was du wirklich empfiehlst, was du wirklich auch verdammt gut kennst."
Rund 90.000 Neuerscheinungen werden jedes Jahr auf den deutschen Buchmarkt gespült, und Buchhandlungen wie Ocelot versuchen gar nicht erst, in der Titelmenge mit Amazon zu konkurrieren. Maria-Christina Piwowarski sieht darin auch eine mögliche Überlebensstrategie für Verlage: Klasse statt Masse.
(Maria-Christina Piwowarski:) "Was ich hier total feststelle ist, je weniger Bücher ein Verlag macht – ich verstehe Mischkalkulationen und ich bin die Letzte, die irgendwie sagt, es soll nicht irgendwie alles Mögliche querbeet gelesen werden und so weiter –, aber dass man sich durchaus vielleicht auch so ein bisschen reduzieren könnte und in die Titel, die man dann aber macht, soviel Aufmerksamkeit steckt, dass eigentlich kein Titel hinten rüber fallen darf."
Rosemarie Lux und Rainer Moritz von der Buchhandlung Moritz und Lux sind alte Hasen im Geschäft. Seit 1982 betreiben sie zwei Filialen in Lauda und Bad Mergentheim im nördlichen Baden-Württemberg.
(Rosemarie Lux:) "Also, wir haben schon vor fünf Jahren oder so noch ganz andere Stapel mit so leichter Literatur einfach verkauft, wo man nichts für tun muss. Das liegt halt da und wird gekauft. Und da ist heut viel auch so Richtung E-Book abgeflossen, kann man glaub ich schon sagen."
(Rainer Moritz:) "Was jetzt gottseidank so langsam zur Sprache kommt und auch umgesetzt wird, ist dass Bücher auch wieder teurer werden, aber nicht teuer werden, sondern wenn man vergleicht, dass früher das oft ja so die Schwelle gab mit 40 D-Mark für einen Roman und bis vor kurzem eigentlich 20 Euro noch gang und gäbe war, sieht man doch, dass die Wertigkeit von Büchern wird langsam wieder gesehen und auch honoriert, indem die Preise etwas nach oben gehen."
Buchhandel fühlt sich von der Politik vernachlässigt
Die Anerkennung des Buches als Kulturgut und die Honorierung derjenigen, die sich täglich für das Buch einsetzen – das ist die Idee hinter dem seit 2015 jährlich von Kulturstaatsministerin Monika Grütters verliehenen Deutschen Buchhandlungspreises. Die eigentümergeführten Buchhandlungen freuen sich über Prämien von bis zu 25.000 Euro – doch sieht sich die Branche als Ganzes von der Politik ausreichend wahr- und ernstgenommen?
S.-Fischer-Verleger Jörg Bong:
(Jörg Bong:) "Es wird vollkommen inadäquat von der Politik behandelt bisher, wie das ganze Thema Kultur und Bildung. Auch da ist es ja nur exemplarisch, das gilt genauso, reden Sie mit einem engagierten Ausstellungsmacher für bildende Kunst."
Noch scheint die Erkenntnis nicht angekommen zu sein, dass die gesellschaftlichen Umbrüche und die Radikalisierung in bestimmten Milieus möglicherweise auch mit der Vernachlässigung kultureller Vermittlungsaufgaben zu tun haben könnte.
(Jörg Bong:) "Jetzt ist für mich ein Punkt erreicht, wo es fahrlässig wäre, kriminell, nicht in die Öffentlichkeit zu gehen, gebündelt, klar konzertiert. Das meint vor allem eben auch die Politik, weil, ja, die muss die Rahmenbedingungen formulieren. Auch Politik muss demonstrieren, was das Buch bedeutet, ganz stark, und dann verbindlich in die Gesellschaft wieder hineinbringen in seiner Bedeutung."
In der Düsseldorfer Erklärung unabhängiger Verlage aus dem Februar 2018 fordern diese eine staatliche Unterstützung für ihre oft selbstausbeuterische Arbeit – ähnlich dem Buchhandlungspreis.
Susanne Schüssler fasst die Aufgabe der Politik allerdings allgemeiner:
(Susanne Schüssler:) "Also, die Rolle der Politik sehe ich vor allem in der Bereitstellung guter Konditionen. Ich halte es nicht für sinnvoll, große Subventionen zu machen, so wie es in anderen Ländern ja üblich ist. Ich bin ein sehr großer Freund von Übersetzungsförderungen. Das ist eine andere Sache, weil beim übersetzten Buch die Kosten einfach sehr viel größer sind. Aber ansonsten bin ich ein Freund davon, dass die Politik uns Voraussetzungen schafft, die uns das Arbeiten überhaupt noch möglich machen."
Zu diesen Rahmenbedingungen gehört der feste Ladenpreis und der verminderte Mehrwertsteuersatz – beides Elemente, die immer wieder zur Diskussion gestellt werden. Dazu gehöre aber auch, die Global Player in die Schranken zu weisen:
(Susanne Schüssler:) "Wenn man das sieht, Amazon hat nicht mal einen Firmensitz hier, also die arbeiten unter ganz anderen Bedingungen als ein normaler Buchhändler. Und das geht nicht. Das heißt, wo wir eigentlich Unterstützung brauchen, ist in den rechtlichen Dingen, in den rechtlichen Voraussetzungen."
Wird man die Branche in zehn Jahren wiedererkennen?
Es wäre also an vielen Stellen anzusetzen. Dass es sich lohnt, diesen immer noch einmaligen Buchmarkt hierzulande zu bewahren, steht außer Zweifel. Die Vielfalt der Buchproduktion und die flächendeckende Distribution sind im Vergleich zu anderen Ländern bemerkenswert. Aber wird man die Branche in zehn Jahren noch wiedererkennen können? Oder werden sich, nimmt man die Krisensymptome ernst, drastische Veränderungen ergeben?
(Anke Vogel, Buchwissenschaftlerin:) "Ich glaube, in den nächsten zehn Jahren wird zu heute wahrscheinlich kein so wahnsinnig großer Unterschied sein, wenn die Verlage weniger ängstlich vielleicht auch an diese digitalen Entwicklungen herangehen und eben tatsächlich ihre Buchprodukte auch durchaus digital denken, also dahin gehen, wo die Käufer und Leser entsprechend auch sind, eben ihre Bücher verfügbar machen."
(Jörg Bong, Verleger:) "Niemand wird die nächsten zehn Jahre schaffen, wenn wir nicht insgesamt die Sicherung des Lesens, sagen wir mal, und der Idee, dass all das, was wir können, wenn wir das nicht schaffen, wird niemand die nächsten zehn Jahre schaffen. Aber das lässt sich auch noch absolut retten."
(Rainer Moritz, Buchhändler:) "Vielleicht gibt es weniger Buchhandlungen auch, weil natürlich Buchhandlungen oftmals auch so mit Selbstausbeutung letztlich nur existieren können, ja. Ich denk mir, da wird es in den nächsten Jahren doch noch einen Rückgang an Buchhandlungen geben, weil viele ihre Buchhandlung nicht mehr weiterverkaufen können."
(Helge Malchow, Verleger:) "Mein Gefühl ist, dass wir keine boomende Wachstumsbranche sind, sondern eine Branche, eine Welt, die etwas schrumpft, bei der statistisch gesehen leichte Rückgänge stattfinden werden. Aber durch einzelne riesige Erfolge auch immer wieder gegenläufige Entwicklungen möglich sind. Und dass das Medium Buch nicht per se als ein Kommunikationsmedium abgehängt wird. Aber es muss viel stärker als früher darum kämpfen, wahrgenommen zu werden, und es kann nicht mehr bauen auf dieselbe Selbstverständlichkeit, mit der es früher die Wohnzimmer des Bildungsbürgertums bestückt hat."
(Daniel Kampa und Ulrike Ostermeyer, Kampa Verlag:) "Es gibt ja diesen wunderschönen Satz von Joseph Roth: "Niemals werden wir Bücher so nötig haben wie Karotten." Und das wär ja auch gut so, weil Karotten sind gesünder. Wobei, Zitatende von Joseph Roth, wobei natürlich Karotten gut sind für die Augen, und Augen braucht man zum Lesen, das heißt Bücher ..." - "Stimmt. Bücher und Karotten!"