Viktor Schklowskij: "Sentimentale Reise"

Erinnerungen eines russischen Armeeoffiziers

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»Freuen wir uns, dass es übersetzbar ist«, notierte Walter Benjamin nach der Lektüre. © Die andere Bibliothek / dpa / picture alliance / Ria Novosti
Von Hans von Trotha |
Hundert Jahre nach der Russischen Revolution erscheint Viktor Schklowskijs Roman "Sentimentale Reise" erstmals vollständig auf Deutsch. Illusionslos schildert der Autor seine Erlebnisse während der Russischen und Ukrainischen Revolution.
Russland 1917. "Zwei Filmaufnahmen", schreibt Viktor Schlowskij, "sind aus der damaligen Zeit erhalten. Auf der einen sieht man, wie im Hof der Mannschaft Tauben gefüttert werden, auf dem anderen, wie sie zu einem Einsatz ausrückt, mit einem gepanzerten Austin an der Spitze und Soldaten mit blankgezogenen Offizierssäbeln im Gefolge." Wie sich da auf einer quasi nachträglich hinzumontierten Tonspur zu zwei Filmschnipseln in wenigen Worten ein Schwarm Friedenstauben in einen grotesk anmutenden Angriff verwandelt – das ist ein kleines Beispiel für großes Erzählkino zwischen Biographie und Roman.

"Ich ging wie eine Nadel ohne Faden durch das Gewebe"

Hundert Jahre nach der Russischen Revolution und gut 80 Jahre nach dem ersten Erscheinen in einem Berliner Exil-Verlag ist Viktor Schlowskijs "Sentimentale Reise" im Rahmen der Anderen Bibliothek neu übersetzt und erstmals vollständig auf Deutsch erschienen. Eine Entdeckung. Und das nicht nur als besonders eindringliche Quelle zur russischen Revolution, sondern auch als ungewöhnliches Beispiel für eine literarische Bearbeitung biographischer Motive vor historischer Kulisse. Die Kritiker Boris Eikhenbaum und Juri Tynynow lobten das Buch damals als vielversprechenden neuen Trend des russischen Romans, der seit dem Tod von Dostojewski, Turgenew und Tolstoi in der Krise gewesen sei. Das Genre müsse neu erfunden werden. Genau daran hat sich Schklowskij versucht, indem er seine Erlebnisse während der Revolution und als Armeekommissar in Persien und in der Ukraine im Revolutionskrieg einzufangen versuchte, ohne große Illusion: "Ich ging wie eine Nadel ohne Faden durch das Gewebe." Auch der Leser wird nicht geschont: "Ich will nicht einsam weinen, darum erzähle ich noch eine Sache, die zu bedrückend ist, um sie zu verbergen."

Subjektiver Blick auf die Gräuel des Krieges

Vorangegangen war dem die Begründung einer literaturwissenschaftlichen Schule, des sogenannten (russischen) Formalismus, der davon ausgeht, dass Literatur vor allem Form ist, nicht Inhalt. Entwickelt hat Schklowskij diese Theorie unter anderem an den Büchern von Laurence Sterne, "Tristram Shandy" und "Yoricks empfindsame Reise". Hier hat Schlowskij sich den Titel für seine Kriegserinnerungen geborgt – und das nicht willkürlich. Er zitiert einerseits einen seiner Kronzeugen für den Formalismus und ironisiert andererseits die eigne subjekiv-emotionale Herangehensweise an die Gräuel des Krieges. Es ist diese eigenwillige Mischung aus hoher emotionaler Intensität und strukturalistischer Analyse, die auch Schlowskijs berühmteres Buch "Zoo oder Briefe nicht über die Liebe" kennzeichnet – einen empfindsamen Briefroman aus der Feder eines russischen Formalisten. Der Widerspruch baut eine anhaltende Spannung auf und gebiert immer wieder eine überraschende poetische Schönheit – literarisches Pendant zur historischen Wahrheit?
Ein Klassiker ist wiederzuentdecken: "Krieg und Frieden" Anfang des 20. Jahrhunderts, ein Buch über Grenzen und Möglichkeiten des Erzählens und den poetischen Mut der Verzweiflung.

Viktor Schklowskij: "Sentimentale Reise"
Aus dem Russischen von Olga Radetzkaja
Die andere Bibliothek, Berlin 2017
492 Seiten, 42 Euro

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