Vita Sackville-West: Eine Frau von Geist. Der geheimnisvolle Zauber des Puppenhauses von Königin Mary
mit Illustrationen von Kate Baylay
übersetzt von Isabelle Fuchs
Gerstenberg Verlag, Hildesheim 2018
60 Seiten, 26 Euro
Eine Gespenstergeschichte für Queen Mary
Das Gespenst hat Vita Sackville-West 1924 für die Königin Mary erfunden. Die wünschte sich eine Geschichte für die Bibliothek ihres royalen Puppenhauses. Nun wurde "Eine Frau von Geist" genau dort in den Regalen entdeckt – und zum ersten Mal überhaupt veröffentlicht.
Eine der schönsten Zeichnungen des Buches zeigt eine elegante Dame, die angestrengt in die Bibliothek eines Puppenhauses späht. Doch selbst mit gerecktem Hals und Lorgnon entdeckt sie nur das Augenfällige: einen Schreibtisch mit Globus, einen Lesesessel, Kronleuchter und viele, in Leder gebundene Bücher.
Was dem Blick der Dame entgeht, ist nicht Weniger als ein Gespenst. Es lebt in dem Miniatur-Domizil und pendelt quicklebendig zwischen Büchern, Bädern und Weinkeller hin und her – ungesehen von der feinen Gesellschaft, die das Puppenhaus umgibt und immer wieder hineinspäht. Was für eine abenteuerliche Geschichte!
Geschichte des royalen Puppenhauses
Entsprungen ist sie der Fantasie von Vita Sackville-West. Gemeinsam mit 170 weiteren Autoren hatte Queen Mary die Schriftstellerin 1924 gebeten, eine Geschichte für die Bibliothek ihres royalen Puppenhauses zu schreiben. Erst kürzlich wurde diese eben dort in einem Regal (wieder-) entdeckt. Nun wird die Erzählung erstmals überhaupt veröffentlicht, standesgemäß in einem prächtigen Leinenband im Großformat und begleitet von den Bildern der Londoner Illustratorin Kate Baylay.
Vita Sackville-West erzählt mit überbordender Fantasie. Ihr Gespenst, ein fröhliches, zeitreisendes Wesen, hat bereits viel erlebt, als es sich im Puppenhaus niederlässt. Es pflegte Bekanntschaft mit historischen Persönlichkeiten etwa dem chinesischen Kaiser und berühmten Märchenfiguren wie Dornröschen oder Blaubart. Selbst Scheherazade und den Geschichten von Boccaccio hatte es gelauscht. Doch ist all dies nichts im Vergleich zum Komfort des aktuellen Domizils: Lift, Bäder, Herd, elektrisches Licht – es sind die technischen Neuerungen, die das Gespenst verzücken und in Queen Marys Puppenhaus verweilen lassen. Allerdings droht es entdeckt zu werden, unordentlich wie es ist.
Gespenst durch die Epochen und Interieurs begleiten
Kate Baylay inszeniert diese federleichte Geschichte in zarten, an den Jugendstil angelehnten Tableaus. Es macht ihr sichtlich Freude, das Gespenst durch die Epochen und Interieurs zu begleiten und in den verschiedensten Gewändern zu präsentieren. Aktuell trägt es Pagenkopf und erinnert deutlich an seine Erfinderin: Vita Sackville-West.
Das ist kein Zufall. Tatsächlich scheint die Persönlichkeit der Schriftstellerin, die zum erweiterten Bloomsbury-Kreis zählte und Virginia Woolf zur Geliebten hatte, an vielen Stellen durch die Gespenstergeschichte hindurch. Es gibt Verwandtschaften nicht nur in der unkonventionellen Lebensweise des spukenden Wesens, auch seine Zuneigung zum Puppenhaus erinnert an Vitas Liebe zum Familiensitz Knole und dem für seinen Garten weltberühmten Schloss Sissinghurst. Und was die Zeitreise angeht: vier Jahre später, 1928, schrieb Virginia Woolf den von der Freundin inspirierten Roman des durch die Jahrhunderte wandernden und das Geschlecht wechselnden Orlando.
So ist diese Humoreske nicht nur "charming", sondern auch hoch interessant für die zahlreichen Fans von Vita Sackville-West. Wie schön, dass sie fast 100 Jahre nach ihrem Entstehen nicht mehr nur der Königsfamilie zugänglich ist.