Vom "Schutzjuden" zum Staatsbürger

2012 wird nicht nur der 300. Geburtstag des Preußenkönigs Friedrichs II. begangen, am 11. März jährt sich auch zum 200. Mal das Edikt, das die in Preußen lebenden Juden anderen Untertanen rechtlich gleich stellte.
Von nun an mussten sie sich nicht mehr durch spezielle Abgaben den Status eines "Schutzjuden" erkaufen. Sie waren jetzt preußische Staatsbürger, durften sich frei niederlassen und dem Gewerbe ihrer Wahl nachgehen. Allerdings gab es Einschränkungen: zu Staatsämtern wurden sie nicht zugelassen, auch höhere Offiziersränge blieben ihnen verwehrt. Dennoch, das als Emanzipationsedikt bezeichnete Gesetzeswerk war ein wichtiger Schritt auf dem Weg zur jüdischen Gleichberechtigung in Preußen und Deutschland.
In ihrem Buch gehen die Historikerinnen Irene Diekmann und Bettina Götze den Folgen nach, die dieses Edikt auf die praktische Lebenssituation, den Alltag preußischer Juden hatte. Dabei zeichnen sie nicht die gut erforschten Geschichten der Familiendynastien "mit den großen Namen" nach, der Mendelssohns oder der Liebermanns. Sie beleuchten vielmehr die von der Forschung bislang ausgeblendete jüdische Mittelschicht am Beispiel der Familie Levin, die seit dem 17. Jahrhundert in der kleinen Havelstadt Rathenow lebte und bald nach dem Erlass des Edikts nach Berlin übersiedelte.

Über drei Generationen hinweg erfassen die Autorinnen eine Zeitspanne von 150 Jahren, in der die Prozesse der Assimilation veranschaulicht werden. Angefangen mit der Namensänderung von Levin zu Lesser über die Konversion zum protestantischen Glauben bis zur Wahl des Berufs als Prokurist in einer angesehenen Bank hat der erste preußische Staatsbürger unter den Lessers schon die Linie vorgegeben, der auch seine Nachfahren folgen werden. Dank einer kosmopolitischen Grundhaltung – man spricht mehrere Sprachen, betätigt sich kulturell-literarisch, aber auch karitativ in vielerlei Vereinen – stehen alle führenden Familienmitglieder "tätig und treu" auf Seiten des "Vaterlandes", leisten freiwillig Militärdienst und zeichnen sich durch ein hohes Maß an Loyalität gegenüber dem Land aus, dessen Bürger sie sind, ob als spätere Verleger, als avantgardistische Gartenarchitekten oder als Rundfunkpioniere.

Der familiengeschichtliche Ansatz macht das Buch lebendig, zumal da die einzelnen, farbig gezeichneten Biographien der drei Protagonisten geschickt mit der allgemeinen politischen Entwicklung verwoben sind. Etappen der brandenburgisch-preußischen Geschichte bis zu den ersten jüdischen Ansiedlungen geraten ebenso in den Blick wie die Stein-Hardenbergschen Reformen, als deren Höhepunkt das Emanzipationsedikt gesehen wird, vor allem aber, wie dessen Mängel durch die Anpassungsfähigkeit und den Erfindungsreichtum der davon Betroffenen ausgeglichen werden.

Zeitleisten, die den einzelnen Kapiteln vorangestellt sind, ermöglichen auch historisch weniger Versierten den schnellen Epochenüberblick. Reich illustriert mit Porträts, Fotos, Stadtansichten, Landschaftsgemälden, faksimilierten Dokumenten liest sich das Buch abwechslungsreich, manchmal freilich tritt der Text hinter allzu viel Freude an der Abbildung zurück. Auch fehlt der Vergleich jüdischen Lebens in Preußen mit dem in anderen deutschen Territorien oder europäischen Ländern. Trotzdem ist dieses einzige Buch über das Emanzipationsedikt und seine Folgen eine aufschlussreiche Studie über ein wichtiges Kapitel in der deutsch-jüdischen Beziehungsgeschichte.


Besprochen von Edelgard Abenstein

Irene A. Diekmann, Bettina L. Götze: "Vom Schutzjuden Levin zum Staatsbürger Lesser. Das preußische Emanzipationsedikt von 1812"
vbb Verlag, Berlin 2012
168 Seiten, 19,95 Euro

Links auf dradio.de:

"Was ham' die, was wir nicht haben?"
"Erklärungen für den Abschied vom Judentum"
Mehr zum Thema