Gesine Palmer, geboren 1960 in Schleswig-Holstein, studierte Pädagogik, evangelische Theologie, Judaistik und allgemeine Religionsgeschichte in Lüneburg, Hamburg, Jerusalem und Berlin. Nach mehrjähriger wissenschaftlicher Lehr- und Forschungstätigkeit gründete die Religionsphilosophin 2007 das "Büro für besondere Texte" und arbeitet seither als Autorin, aber auch als Redenschreiberin, Trauerrednerin und Beraterin. Ihr wiederkehrendes Thema sind "Religion, Psychologie und Ethik" – im Kleinklein der menschlichen Beziehungen wie im Großgroß der Politik.
Die Fortschrittsgegner sind verlogen
Israel hat eine liberale Gesetzgebung gegenüber homosexuellen und queeren Menschen. Kritiker behaupten unter dem Schlagwort "Pinkwahsing", das Land wolle sich damit politisch "reinwaschen". Diese Kritik ist verlogen, sagt die Theologin Gesine Palmer.
Jeder kennt die Szene: Sie bauen mühselig und umständlich etwas auf, drehen sich um – und reißen in der achtlosen Bewegung alles wieder ein, weil Sie den Zollstock vergessen haben, der aus Ihrer Jackentasche ragte. Gesellschaftlicher Fortschritt scheint grundsätzlich so zu funktionieren.
Was haben wir nicht gekämpft gegen die Gesinnungsethik, die spätestens seit Max Weber als ein Webfehler der kantischen Philosophie galt. Wo Kant noch meinte, es komme im Wesentlichen auf die Motive an, aus denen man etwas Gutes tue, da schlug Weber vor, sich lieber mit den Folgen des Handelns zu befassen. Er nannte das Verantwortungsethik.
In der Gesetzgebung haben wir in den westlichen Ländern zumeist gelernt, so zu denken. Und deshalb wurden Gesetze, die sogenannte "widernatürliche" oder "unreife" sexuelle Vorlieben unter Strafe stellten, aufgehoben. Wer Menschen gleichen Geschlechts liebt, wer sein Geschlecht verändert, wer sich nicht auf eine bestimmte sexuelle Identität festlegen will oder kann, schadet in aller Regel niemandem. Also gibt es in den offenen Gesellschaften keinen Grund, irgendeine Strafverfolgung dieser Neigungen zu betreiben.
Jeder Staat, der die alten gesinnungsethischen Dämonisierungen sexueller Minderheiten abgetan und eine weitgehende Gleichstellung erreicht hat, darf mit Recht auf den entsprechenden Fortschritt stolz sein. Er hat sich und die Betroffenen zum Stolz befreit.
Wem nützt das Gerede vom "Pinkwashing" wirklich?
Neuerdings hat sich allerdings eine Kritik an solchem Stolz auf das Erreichte breit gemacht – ausgerechnet mit Blick auf den Nahen Osten. Dass Israels Regierung mit der Attraktivität Tel Avivs für schwules, lesbisches und queeres Leben wirbt, wird seit einiger Zeit mit dem Namen "Pinkwashing" abgewertet. Gemeint ist: die Regierung wasche sich von ihren sonstigen politischen Sünden rein, indem sie darauf verweist, dass sie im Gegensatz zu ihren arabischen Gegnern Homosexuelle nicht verfolgt.
Diese radikale Abwertung des in einer ganz wesentlichen Frage erreichten gesellschaftlichen Fortschritts trifft die Adressaten und die Homosexuellen, deren Befreiung als ein bloßer "Vorwand" erscheint, gleichermaßen.
Angenommen, die liberale Haltung gegenüber Homosexuellen würde als "Werbung" für ein Land verwendet, das wie jedes andere auch weniger sympathische Seiten hat – wäre das wirklich so schlimm? Gesinnungsethisch: klar. Dann lieben die Israelis ihre Homosexuellen gar nicht aus edlen Motiven, sondern weil ihnen diese Liebe nützt. Pfui. Sie sollen sie aus echter Überzeugung leben lassen.
Aber: Wem genau sagen wir unser etwas schulhofartiges: "Das machst du ja nur, weil du…"? Und wem nützt oder schadet die Rede vom "Pinkwashing" wirklich?
Fortschritt ist Fortschritt – egal aus welchen Motiven
Dass es in vielen Ländern inzwischen verboten ist, Homosexuelle zu diskriminieren und zu verfolgen, ist doch in jedem Fall gut – egal, ob die betreffenden Gesetze aus höheren oder eher aus niederen Motiven geändert wurden. Von den Ideologien, die in die persönlichen Lebensweisen und Motive ihrer Insassen schärfer eingreifen, geht viel mehr Gewalt gegen die "eigenen" Leute und gegen fremde Gesellschaften aus als von denen, die individuelle Freiheit nur da begrenzen, wo sie der Freiheit anderer zu schaden droht. Darauf stolz zu sein, ist kein Missbrauch der mühsam erkämpften Freiheiten.
Anstatt diesen Fortschritt klein zu reden und mit dem Hintern wieder einzureißen, sollte man ihn lieber als Ansporn verstehen: munter voranzugehen und die Stärkung individueller Rechte und Verantwortung in weiteren Bereichen zu erreichen.