Wählerfrust

Politiker-Bashing reicht nicht

Ein verunstaltetes Wahlplakat der Partei Bündnis 90/Die Grünen mit dem Porträt von Cem Özdemir, Spitzenkandidat und Bundesvorsitzender von Bündnis 90/Die Grünen, hängt am 28.08.2017 in München (Bayern) am Strassenrand in der Innenstadt.
Ein verunstaltetes Wahlplakat mit dem Porträt von Cem Özdemir, Spitzenkandidat und Bundesvorsitzender von Bündnis 90/Die Grünen, hängt in der Innenstadt von München. © picture alliance / dpa / Peter Kneffel
Von Edda Müller · 04.09.2017
61,5 Millionen Deutsche sind aufgerufen, bei der Bundestagswahl ihre Stimme abzugeben. Laut einer Umfrage ist fast die Hälfte der Wähler noch unentschieden. Sie sind frustriert und schimpfen über Politiker - doch bloßes Politiker-Bashing ist zu einfach.
Im internationalen Vergleich bescheinigt man den Deutschen ein relativ hohes Interesse an Politik. Wir wollen alle gerne mitregieren und gefragt werden, aber bitte nur hin und wieder, ad hoc und punktuell. Unser Verhältnis zur Welt der Politik ist von Widersprüchen geprägt. Vielleicht als Relikt aus unserer Geschichte pflegen wir eine romantische, idealistische Vorstellung von Politik. Das "Volk der Dichter und Denker" fühlt sich anscheinend immer noch erhaben über die realen Vorgänge in der Politik. Da erklären Prominente in Talkshows, sie seien stolz mit Politik nichts zu tun zu haben. Moderatoren wie Zuschauer fühlen sich gut, wenn das Wort von der "Politik als schmutziges Geschäft" fällt. Macht in der Politik gilt als anstößig, politischer Streit ebenso. Da ist der Wunsch nach dem wohlmeinenden Diktator nicht fern.

Deutsche haben idealistische Vorstellungen von Politik

Auch der Beruf des Politikers wird in Deutschland einerseits idealisiert und andererseits diffamiert. Wir Deutschen wünschen uns Überzeugungstäter, die dafür brennen, das Land zum Besseren zu verändern. Idealbild ist der freie, unabhängige Abgeordnete. Er oder sie sollten nicht an Geld interessiert sein, nicht an ihren Sesseln kleben aber bitte schön auch während ihres Mandats nicht an ihre berufliche Zukunft denken. Kurz und gut: Unsere Repräsentanten im Parlament sollten keine eigenen Interessen haben, kenntnisreich, mutig, kompromisslos und unabhängig sein.

Politische Realität: Das Bohren von dicken Brettern

Dies Idealbild kollidiert mit der Realität des politischen Geschäfts in einer Demokratie. Max Webers Beschreibung ist hierfür immer noch gültig. Er sagte: "Politik bedeutet ein starkes langsames Bohren von harten Brettern mit Leidenschaft und Augenmaß zugleich". Dies verlangt Berufspolitiker, die sich organisieren und mit Gleichgesinnten zusammenschließen, andere Meinungen aushalten, bereit sind Kompromisse zu schließen, keine Obstruktion betreiben und den nicht Job hinwerfen, wenn sie sich nicht sofort durchsetzen können. Wir sehen in Ländern mit ständig wechselnden Regierungen wie wichtig es ist, dass sich Politiker auch nach knappen Wahlausgängen zusammenraufen, damit das Land regiert werden kann. Wie viel Gewicht der oder die Abgeordnete im politischen Streit auf die Waagschale bringen kann, hängt von der politischen "Hausmacht" ab. Ein Direktmandat im Wahlkreis macht stark. Letztlich kommt es auf die Persönlichkeit und ihre Glaubwürdigkeit an.

Politiker müssen eine Portion Masochismus mitbringen

Der Typus des Berufspolitikers genießt wenig Achtung in Deutschland. Ihm wird vorgeworfen, er hänge an der Macht, verfolge selbstsüchtige persönliche Interessen und habe von den Bedürfnissen der Bürger und Bürgerinnen wenig Ahnung. Solche Politiker gibt es. Wenn wir allerdings diesen Typus zum Sinnbild aller Politiker machen, müssen wir uns nicht wundern, wenn integere, unabhängige Geister für den Beruf des Politikers nicht zur Verfügung stehen. Politiker müssen heute eine ordentliche Portion Masochismus mitbringen, um vor Frustration geschützt zu sein.

Kandidatenkür in Parteien muss reformiert werden

Demokratie ist ein anstrengendes Geschäft. Sie verlangt Bürger und Bürgerinnen, die nicht nur hin und wieder mitmachen. Zivilgesellschaftliches Engagement ist wichtig, reicht wegen mangelnder Legitimation aber nicht aus. Die Bereitschaft zum dauernden Engagement in Parteien, zur Kandidatur für politische Ämter geht in Deutschland seit Jahren zurück. Weniger als 2,5 Prozent der Wahlberechtigten sind Mitglieder einer Partei. Zur aktiven Mitarbeit in einem Ortsverband finden sich wiederum nur wenige Parteimitglieder bereit. Entsprechend schmal ist die Basis für die Rekrutierung des politischen Personals. Allein darüber zu klagen wird nicht dazu führen, dass sich dort mehr Menschen mit Format und neuen Ideen durchsetzen. Es ist an der Zeit, dass die Parteien ihre jahrzehntelange Art der Kandidatenkür reformieren. 4.0 sollte auch an der Parteibasis Einzug halten, damit nicht nur diejenigen, die viel Zeit haben und ständig vor Ort sind, die Kandidatenauslese bestimmen.

Prof. Dr. Edda Müller wurde 1942 in Sorau/Niederlausitz geboren und lebt in Berlin. Sie ist Honorarprofessorin an der Deutschen Universität für Verwaltungswissenschaften Speyer. Sie studierte Neuere Geschichte und Politikwissenschaft in München, Berlin und an der ENA in Paris. Nach beruflichen Stationen im Bundesinnenministerium, im Bundeskanzleramt, dem Umweltbundesamt und im Bundesumweltministerium war sie Ministerin für Natur und Umwelt in Schleswig-Holstein (1994-1996) und Vizedirektorin der Europäischen Umweltagentur in Kopenhagen. Von 2001 bis 2007 war sie Vorsitzende des Verbraucherzentrale Bundesverbandes. Von 2005 bis 2010 hat sie dem Beirat von Transparency Deutschland angehört. Seit 2010 ist sie Vorsitzende von Transparency Deutschland. "Die Bekämpfung von Korruption und unethischem Verhalten ist für das Überleben demokratischer freiheitlicher Gesellschaften die größte Herausforderung unserer Zeit."

Edda Müller, Vorsitzende von Transparency Deutschland.
© Imago / Reiner Zensen
Mehr zum Thema