Nationaler Waldgipfel: Waldsterben 2.0 – ein Beispiel aus dem Harz [
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Die jüngsten Waldzustandsberichte und der aktuelle Bericht der Bundesregierung ließen die Alarmglocken läuten. Drei Dürrejahre in Folge, massiver Borkenkäferbefall, Stürme und Waldbrände, riesige Kahlflächen in den Wäldern: Die Schäden sind mittlerweile so groß, dass klar ist: Es muss etwas geschehen. Anlässlich des Beginns des Nationalen Waldgipfels "Waldsterben 2.0" hat sich Imke Oltmanns im Harz angeschaut, was der Wald braucht.
Das schwarze Gold der Wälder
30:12 Minuten
Wälder speichern CO2 und sind deshalb unabdingbar für den Klimaschutz. Eine wichtige Rolle spielt dabei der Waldboden, der unter extensiver Holznutzung und Monokulturen massiv leidet. Wie aber gelingt die nachhaltige, klimaresistente Bewirtschaftung?
Vögel singen, Blätter rauschen, dazu der erdige Boden unter den Füßen und alte Sagen und Geschichten im Kopf: Der Wald ist der mythologische Lieblingsort der Deutschen. In der Hälfte der Märchen der Gebrüder Grimm taucht er auf, steht dort für Unerklärliches, Ursprüngliches, für Spiritualität und unheimliche Bedrohung.
Im Hier und Jetzt erfüllt er diverse Funktionen: Ist Heimat vieler Lebewesen, reguliert den Wasserhaushalt und das Klima, bietet Ressourcen und Arbeitsplätze. Seine Bäume sind, wenn sie Glück haben, lebendige Zeugen längst vergangener Tage.
Der Wald als CO2-Senke
Heute jedoch geht es dem Wald so schlecht wie lange nicht mehr. Das gilt, laut dem letzten Waldzustandsbericht, für Deutschland – und ist zugleich ein weltweites Phänomen. Es hat mit dem Klimawandel, mit Hitze und Dürre und daraus resultierenden Schwächen zu tun, aber auch mit Ausbeutung, großflächigen Rodungen, Misswirtschaft und zweifelhafter Holznutzung.
Doch Wald wird dringend benötigt, um den Klimawandel aufzuhalten. Er soll möglichst viel CO2 aus der Atmosphäre holen und binden. Wie die Bäume das machen, erklärt Torsten Welle von der Naturwald Akademie in Lübeck.
"Die Blätter haben so kleine Öffnungen, wie so kleine Münder, die ziehen dann quasi das CO2 aus der Atmosphäre. Ein Teil geht als Biomasse-Wachstum in den Stamm, ein Teil wird aber auch wieder weggeatmet. Diese Buche hat 120 Jahre, das heißt, die hat seit 120 Jahren eifrig CO2 aus der Atmosphäre gesaugt und in ihrem dicken Stamm gespeichert", erzählt er.
Gut die Hälfte vom CO2 ist in den Pflanzen gespeichert, die andere Hälfte darunter: Rund 1500 Millionen Tonnen Kohlenstoff befinden sich in den Waldböden Deutschlands. Doch in den häufig stattfindenden Berechnungen zur CO2-Speicherung im Wald wird der Boden oft übersehen.
Waldboden in der Forschung lange übersehen
Waldboden entsteht durch die Verwitterung des Gesteins unter ihm und durch unzählige Bodenlebewesen, die die herabfallenden organischen Bestandteile zu Humus umwandeln. Dafür benötigt der Boden viel Zeit, er wächst nur etwa einen Millimeter pro Jahr. Was dabei genau vorgeht, ist zu einem großen Teil noch unbekannt, sagt Henrik Hartmann, Forstwissenschaftler und Ökophysiologe am Max-Planck-Institut für Biogeochemie in Jena.
"Dass wir wenig darüber wissen, liegt daran, dass wir uns noch nicht lange damit beschäftigen. Das war früher nicht wichtig, weil man früher immer nur oberirdisch geerntet hat", erklärt er.
"Zum anderen auch deswegen, weil es schwierig zu untersuchen ist: The dark side of science, die dunkle Seite dort unten. Da laufen sehr viele Prozesse ab, die wir nur sehr oberflächlich kennen und verstehen."
"Ein Erbe, das uns die Wälder schenken"
Jana Ballenthien, Waldreferentin bei der Naturschutzorganisation Robin Wood, greift mit bloßen Händen in die dunkle Materie.
"Ich habe mal das Laub zur Seite geschoben, und wenn wir jetzt hier mal ein bisschen graben, dann sehen wir hier sehr, sehr schwarze Erde, das ist Humus. Und wenn wir weiter graben und weiter graben, dann finden wir immer weiter Humus", erzählt sie.
Dort herrscht eine unfassbare Vielfalt: Ein Gramm Waldboden enthält mehr als 50.000 verschiedene Bakterienarten und mehrere Hundert Meter an Pilzhyphen, von Pilzen ausgebildete Fäden. Regenwürmer und Insekten sind in dieser Welt die Riesen.
"Dieser Humus, das ist ein Erbe, das uns diese Wälder schenken. Es ist unglaublich wichtig für uns. Dieser Humus speichert nämlich nicht nur Feuchtigkeit und Nährstoffe, sondern das ist auch unsere CO2-Senke, das ist unser Speicher. Das ist sozusagen ja ein Zersetzungsprozess, wenn es aber erst mal im Humus ist, dann ist das da auch über Jahrhunderte gebunden. Da kommt das nicht mehr raus", erklärt sie.
Humus bindet CO2 über Jahrhunderte
Christopher Dean von der University of Tasmania in Australien hat in einer Studie den Kohlenstoff im Waldboden untersucht, speziell den unter alten, hohen Bäumen – eine bisher unbekannte Größe.
"Die Bodenuntersuchung um hohe Bäume herum wurde oft vernachlässigt, ganz einfach, weil sie schwierig ist. Wenn Sie auf dicke Wurzeln stoßen, können Sie kein Loch graben, um eine Bodenprobe zu entnehmen", erklärt er.
Seine Arbeitsgruppe hat den Kohlenstoff unter alten Eukalyptusbäumen gemessen, nachdem diese gefällt worden waren. "Wenn der Baum wächst, von ein paar Zentimetern bis hin zu acht Metern Durchmesser, dann zersetzen sich ganz langsam die zentrale Pfahlwurzel und die großen seitlichen Wurzeln. Sie werden schließlich zu Bodenkohlenstoff, der sich direkt unter dem Baum sammelt, zwischen einem und zwei Metern tief."
Viel Kohlenstoff unter alten, hohen Bäumen
Der Kohlenstoff ist dort bis zu viermal höher konzentriert als zwischen den Bäumen. Das gilt nicht nur für Pfahlwurzelbäume, sondern für insgesamt 50 untersuchte Arten. Ein weiterer Grund für die erhöhte Kohlenstoffkonzentration unter alten und großen Bäumen liegt in deren Höhe.
"Sie ragen über den Rest des Kronendachs hinaus und sammeln deshalb mehr Wasser", erklärt Christopher Dean. "Das läuft den Stamm hinunter und zieht Nährstoffe, Kohlenstoff und Stickstoff mit sich nach unten, wo Aufsitzerpflanzen, sogenannte Epiphyten, davon leben. Diese lagern dann auch Nährstoffe ab, sobald sie sich zersetzen. Das ist also ein weiterer Grund, warum sich alles um die Basis dieser Bäume konzentriert."
Eine Tatsache, die bisher übersehen wurde. Und die dafürspricht, alte und hohe Bäume zu schützen. Das allerdings liegt nicht im Interesse der holzverarbeitenden Industrie, meint Christopher Dean.
"Diese großen alten Bäume sind seit über einem Jahrhundert stark rückläufig, weil sie von der Industrie gezielt gefällt werden. Sie bringen einfach am meisten Holz. Diese Bäume wachsen normalerweise auch auf produktiverem Land. Das ist also eher für die Abholzung für die Landwirtschaft und so weiter geeignet."
Rodungen schädigen den Waldboden
Durch das Fällen eines Baumes verändert sich auch immer das Ökosystem darunter. Je großflächiger die Fällungen, desto negativer der Effekt auf den Boden.
"Würden wir diesen Wald jetzt hier wegnehmen oder würden wir hier auch nur große Teile fällen von diesem Wald, dann wäre das auch gleichzeitig eine Degradation dieses Bodens", erklärt Jana Ballenthien.
"Hier müssten Maschinen reingehen, die würden den Boden teilweise umgraben, verletzen. Hinterher wäre hier viel mehr Licht auf dem Boden, diese Sonneneinstrahlungen, auch die Erosion, die Witterungsverhältnisse, die dann einsetzen, zerstören diesen Humusboden und dieser ganze Humus wird weiter zersetzt und das CO2 wird freigesetzt."
Man spricht von Degradation, wenn sich die Bedingungen in Boden und Vegetation negativ verändern. Das kann durch intensive Rodung, aber auch durch Trockenheit, Feuer oder Stürme geschehen und zum Verlust des Ökosystems führen.
Qin Yuanwei von der Universität Oklahoma hat diesen Prozess und den damit verbundenen Kohlenstoffausstoß mit seiner Arbeitsgruppe über Jahre für den brasilianischen Amazonas-Regenwald beobachtet. 2021 hat er die Studie veröffentlicht.
"Ein großer Kohlenstoffverlust ergab sich zunächst durch die extreme Trockenheit im Jahr 2015. Nach dem Regierungswechsel in Brasilien 2019 wurden Schutzgebiete aufgehoben und man begann mit großflächigen Rodungen", erzählt er. "Der Verlust der Waldflächen führte zu einem starken Anstieg des CO2-Ausstoßes. In den vergangenen zehn Jahren ist der Amazonas-Regenwald dann von einer Kohlenstoffsenke zu einer Kohlenstoffquelle geworden."
Von Kohlenstoff-Senke zur Kohlenstoff-Quelle
Die Forschergruppe hat allein für 2019 eine entwaldete Fläche von 3,9 Millionen Hektar gemessen, 2017 und 2018 war es noch etwa eine Million pro Jahr. Amazonien – als weltweit größter tropischer Regenwald – ist eines der Kippelemente im Klimasystem.
Das heißt, ab einem bestimmten Punkt kann sich der Zustand radikal ins Negative verändern, was wiederum andere Ökosysteme zum Kippen bringen könnte. Doch, ab welchem Waldflächenverlust der Kipppunkt erreicht ist, bleibt unbekannt. Überall auf der Welt wird weiter gerodet, legal und illegal.
"Amazonien ist einer der Hotspots der Abholzung, ein anderer liegt in Afrika rund ums Kongobecken. In Südostasien werden industrielle Plantagen angelegt – das sind viele große Flächen, die abgeholzt werden und möglicherweise viel Kohlenstoff freisetzen", erklärt Qin Yuanwei.
"Amazonien ist einer der Hotspots der Abholzung, ein anderer liegt in Afrika rund ums Kongobecken. In Südostasien werden industrielle Plantagen angelegt – das sind viele große Flächen, die abgeholzt werden und möglicherweise viel Kohlenstoff freisetzen", erklärt Qin Yuanwei.
Auf der Online-Weltkarte von Global Forest Watch findet ein globales Wald-Monitoring statt, hier lassen sich die Veränderungen der weltweiten Baumbestände beobachten. Unter anderem ist zu sehen, dass in den von der Forstindustrie intensiv genutzten Gebieten in den vergangenen fünf Jahren noch mal deutlich gesteigert gefällt wurde.
Global Forest Watch bezieht die Daten von einem in Satelliten installierten Instrument zur Messung optischer Strahlung. Die Forschungsgruppe aus Oklahoma erweitert sie durch eine neue Überwachungstechnik, mit der sich auch durch die enorme Wolkenmenge über Amazonien hindurchblicken lässt.
Entwickelt hat sie Professor Xiangming Xiao, ebenfalls von der Universität Oklahoma: "In Zukunft müssen wir die Technik noch weiter entwickeln, und zwar indem wir optische Daten mit Radardaten kombinieren. Damit lassen sich dann einzelne Bäume auf der ganzen Welt identifizieren."
Waldrodung für die Papierindustrie
Immer feinere Technik für eine immer zerstörtere Welt. In Europa wurden in den vergangenen Jahren vor allem in Finnland und Schweden große Waldgebiete gerodet, hauptsächlich für die Papierindustrie. Etwa die Hälfte des in Deutschland benutzten Papiers stammt von dort. Laut WWF verbraucht Deutschland so viel Papier wie die Kontinente Afrika und Südamerika zusammen.
Die Zerstörung der tropischen Lebensräume erfolgt vor allem für Soja- und Palmölimporte in die EU. Der größte Verbraucher ist auch hier Deutschland. Noch speichern die Wälder insgesamt mehr CO2 als sie freisetzen, nehmen geschätzt ein Drittel aller vom Menschen verursachten Kohlenstoffemissionen auf. Doch diese kostenlose Ökosystemleistung lässt nach.
"Das ist ja das, was uns Sorgen machen muss, dazu gibt es Studien, dass vor allem in Regionen, wo Dürre herrscht, jetzt regelmäßig der Zuwachs zurückgeht, da gibt es Befunde aus Europa, da gibt es Befunde von anderen Kontinenten", sagt Pierre Ibisch.
Der Professor an der Hochschule für nachhaltige Entwicklung Eberswalde ergänzt, dass die Wälder und ihre Böden nicht durch eine immer intensivere Holznutzung gestresst werden dürften, sie hätten genug mit dem Klimawandel zu tun.
"Der Kampf gegen den Klimawandel, der ist ja teilweise schon verloren. Wir sehen die Wälder am Rand, hin zu Trockengebieten, wo nach Waldbrand, nach Trockenheit - im Südwesten der USA etwa - kein Wald mehr nachwächst. Und insofern ist es ganz wichtig, wo es nur irgend geht, die Wälder zu stabilisieren", erklärt er.
Einige Waldgebiete wohl nicht mehr zu retten
In Deutschland, sagt Hendrik Hartmann vom Jenaer Max-Planck-Institut für Biogeochemie, gibt es vor allem im Osten mittlerweile so trockene und degradierte Zonen, dass sie sich wohl nicht mehr erholen werden.
"Es gibt wahrscheinlich durchaus Bereiche, in denen man heute schon davon ausgehen muss, dass es vielleicht wirklich zu einer Versteppung kommt", prognostiziert er.
Von den klimatischen Bedingungen her würden in Deutschland vor allem Laubwälder stehen, insbesondere Buchenwälder. Bis zum Mittelalter herrschten sie vor, wurden dann jedoch so stark abgeholzt, dass man dazu überging, die Wälder mit schnell wachsenden Nadelbaumarten aufzuforsten.
Diese Entwicklung hat sich nach den Weltkriegen fortgesetzt und ist bis heute zu sehen: Knapp 50 Prozent der hiesigen Wälder bestehen aus Kiefern und Fichten.
Doch vor allem der Fichte - dem "Brotbaum" der deutschen Forstwirtschaft – geht es schlecht. Sie hat schwer unter den letzten Dürrejahren gelitten und ist vor allem dort großflächig abgestorben, wo sie in Monokultur angepflanzt wurde und auf Böden, die nicht für sie geeignet sind.
Neue Monokulturen als klimaresistente Lösung?
Wie werden die Schäden dort jetzt beseitigt? Wie wird der Wald der Zukunft angegangen? Pierre Ibisch ist durch Deutschland gereist und hat es sich angesehen.
"Auf diesen Flächen wird jetzt geräumt, so als wäre da irgendwie ein Unfall passiert und der Blechschaden wird weggeräumt. Der Waldboden wird fast flächig befahren, die Bäume werden teilweise sogar mit den Wurzeln entfernt. Ich war im Reinhardswald – das war vielleicht mit das Schockierendste – wo der Oberboden mit einem Bulldozer abgeschoben worden war, mit den Resten der Vegetation. Und in den flachgründigen Boden wurden Furchen gezogen, es wurde gepflügt, sodass die ganze Fläche aussah wie ein Steinbruch", erzählt er.
"Das sind natürlich die denkbar schlechtesten Voraussetzungen, um hier einen neuen Wald zu starten. Ich habe Flächen gesehen in Rheinland-Pfalz, auf der Montabaurer Höhe etwa, wo wirklich sehr großflächig auf der Höhe tatsächlich diese Kahlschläge passiert sind und neue Monokulturen angelegt wurden mit Douglasien, dieser nordamerikanischen Baumart."
Manch Waldbesitzer setzt viel Hoffnung in die Douglasie und andere exotische Arten – sie sollen besser mit dem Klimawandel zurechtkommen. Zudem wachsen Douglasien recht schnell, könnten also bald Profit bringen. Der alte Brotbaum, die Fichte, scheint ein Auslaufmodell zu sein.
Dort, wo sie ohnehin geschwächt ist, wird sie zudem gezielt vom Borkenkäfer abgeflogen, der ihr dann oft den Rest gibt. "Wie macht er das, dass er diese schwachen Bäume identifiziert und ganz gezielt zu diesen Bäumen fliegen kann?" Hendrik Hartmann hat sich am Max-Planck-Institut in Jena mit der Frage beschäftigt.
"Die Hypothese ist, dass der Borkenkäfer das Signal von den Bäumen bekommt: Okay, hier befindet sich Baum, der aufgrund seiner Duftnote, wenn man das so sagen will, ein Schwächesignal von sich abgibt", erklärt er.
Experimente mit naturnaher Waldbewirtschaftung
Knut Sturm ist Bereichsleiter des Stadtwaldes Lübeck. Dieser wird seit den 1990er-Jahren naturnah bewirtschaftet: Es wachsen Arten, die hier natürlicherweise vorkommen, es finden keine Kahlschläge statt – und Wald und Boden werden als zusammengehöriges, vielgestaltiges und dynamisches Ökosystem gesehen. Auch hier war der Borkenkäfer tätig.
"Wir stehen hier jetzt an einer Fläche, die ist vor drei Jahren vom Borkenkäfer befallen worden, der Borkenkäfer hat hier mehrere Bäume zum Absterben gebracht. Und wir haben hier ein Experiment gemacht, und zwar haben wir gesagt, wir lassen die Bäume, die befallen sind, stehen", erzählt Knut Sturm.
"Wohlwissend, dass die forstliche Theorie dann besagt, dass sich die Borkenkäfer massenhaft vermehren und in den Nachbarbestand auch reingehen. Und wir haben hier außen rum auch überall noch Nadelholzbestände. Also die Gefahr war tatsächlich real."
In Lübeck gibt es sogenannte Referenzflächen, die seit über 30 Jahren ganz in Ruhe gelassen werden. Hier wird beobachtet, wie das Ökosystem ohne Eingriffe des Menschen mit den verschiedenen Herausforderungen umgeht, und es wird daraus gelernt.
Obwohl der Borkenkäfer auch in diesen Flächen geschwächte Fichtenbestände befallen hat, kam es nie zu einer Massenvermehrung. Also hat man die abgestorbenen Fichten auch auf den anderen Flächen stehengelassen.
"Es sind hier 20 Bäume abgestorben, relativ schnell im ersten und im zweiten Jahr. Die stehen jetzt hier noch und werfen noch Schatten, das ist auch ganz wichtig, produzieren auch in Zukunft Totholz, wenn sie umbrechen und auf den Boden fallen. Und das Spannende ist, dass außen herum überall noch Fichten stehen, die nicht betroffen sind, obwohl wir zwei extreme Trockenjahre hatten", sagt Knut Sturm.
"Danach, nach dem Erstbefall, haben sich hier die Borkenkäfer nicht weiter ausgebreitet. Was passiert ist: Es ist unten drunter eine sehr artenreiche Naturverjüngung entstanden. Wir wissen mittlerweile von 13 Baumarten, die hier auf der Fläche vorkommen."
Totholz als Wasserspeicher und Lebensraum
Junge Bäume, gewachsen aus herabgefallenen oder angeflogenen Samen. Heute ist es augenscheinlich ein intaktes Waldstück. Knut Sturm vermutet verschiedene Gründe dafür, dass hier kein großer Schaden entstanden ist.
Zum einen diene das liegengebliebene Holz den anderen Bäumen als Wasserspeicher und zur Kühlung, zum anderen ist dieses Totholz gleichzeitig ein sehr lebendiger Ort: Schweizer Wissenschaftler betonen in einer Veröffentlichung von 2021, dass Borkenkäfer dort normalerweise auf natürliche Feinde treffen.
"Die haben festgestellt, dass die ganzen Antagonisten, also die, die die Borkenkäfer bekämpfen, in diesen abgestorbenen Bäumen leben. Wenn ich die wegnehme, dann verhalte ich mich kontraproduktiv. Wir fördern den Borkenkäfer, weil ich die Feinde von ihm wegnehme", sagt Knut Sturm.
Die bundesweiten subventionierten Maßnahmen des Wegschaffens, des Aufräumens und des rabiaten Umgangs mit dem Boden seien kontraproduktiv, meint Knut Sturm: "Wir geben im Augenblick 1,5 Milliarden Euro an Steuergeldern aus, um diese Flächen aufzuräumen, um sie hinterher wieder aufzuforsten. Wenn man das hier sieht, dann grenzt das an Steuergeldverschwendung."
"Dauerwald": alte Idee, neu aufgelegt
Hinter der naturnahen Bewirtschaftung in Lübeck steckt kein revolutionär neues Konzept. Bereits vor 100 Jahren verschriftlichte der Forstwissenschaftler Alfred Möller seine Idee vom "Dauerwald". In der geht es um kahlschlagsfreie Bewirtschaftung durch Einzelbaumnutzung, um Schutz und Pflege der Bodenwelt, um Mischbestände, Ungleichaltrigkeit, um einen Holzvorrat, der in Maßen genutzt werden soll.
Im Lübecker Stadtwald ist auffällig, dass hier dickere, höhere und vor allem mehr Bäume stehen, als man es aus anderen Wäldern kennt. "Also diese hohen Holzvorräte, die wir haben, die mittlerweile mindestens um 50, wenn nicht sogar um 80 Prozent über dem liegen, was im bundesdeutschen Schnitt auf vergleichbaren Standorten steht, das sieht man in den Wäldern", erklärt Knut Sturm.
Und wenn auch anderswo Douglasien den Wald der Zukunft bilden sollen: Hier in Lübeck will man sie eher nicht mehr haben.
"Wenn die sich hier in unseren Wäldern etablieren würde, dann hätten wir nichts gegen die Douglasie, dann kann sie das versuchen, hier zu überleben. Aber die Douglasie tut es ja nicht", sagt Knut Sturm.
"Verjüngen tut sich hier unten drunter Laubholz und das ist das naturnahe Laubholz. Also warum soll ich Douglasien dann weiter erhalten? Müsste ich ja hingehen und pflanzen, und das tue ich nicht. Wir pflanzen bei uns nicht in unseren Wäldern, wir setzen zu hundert Prozent auf Naturverjüngung."
Mischwald statt exotische Monokulturen
Es gibt etwa 70 heimische Baumarten. Niemand kann voraussehen, ob und wie sie sich gegen den fortschreitenden Klimawandel behaupten. Doch das Prinzip des Mischwaldes, in dem natürlich vorkommende Baumarten wachsen, habe sich seit Millionen Jahren bewährt und sei deshalb vertrauenswürdiger als die Anpflanzung exotischer Arten, meint Pierre Ibisch.
"Ich teile schlicht nicht den Optimismus der Kollegen, die jetzt nordamerikanische oder asiatische Arten propagieren, dass es mit diesen Baumarten sehr viel besser aussieht. Ich vertraue da etwas mehr dem Ökosystem, dieses haushaltende, vernetzte System, das nun mal Wald ist", sagt er.
"Das ist nicht eine Ansammlung von Bäumen, die nebeneinander stehen und untereinander konkurrieren, sondern dieses im Zuge der biologischen und ökologischen Evolution entstandene Gefüge zwischen Bakterien, Pilzen, diesen ganzen Mikroorganismen im Boden, aber auch in den Pflanzen, auf den Pflanzen."
Kaum Schäden trotz trockener Sommer
Die trockenen und heißen Sommer der vergangenen Jahre haben in Lübeck kaum Schäden hinterlassen. Das dichte Kronendach in den Sommermonaten lässt wenig Licht auf den Boden und schützt ihn so.
Knut Sturm und seine Kollegen helfen, indem sie naturnahe Rahmenbedingungen schaffen, zum Beispiel im Quellmoor, einer Fläche, in der Grundwasser aus dem Boden tritt.
Bevor der Lübecker Stadtwald naturnah bewirtschaftet wurde, hat man hier noch tiefe Gräben gezogen, um das Moor zu entwässern und profitable Bäume wachsen zu lassen. "Wir haben jetzt genau das Gegenteil gemacht. Wir haben hier einen Pfropf gesetzt, dass es praktisch nicht mehr abfließt."
Das funktioniere dann wie ein Schwamm, der vollgesogen ganz langsam Wasser abgibt.
Das funktioniere dann wie ein Schwamm, der vollgesogen ganz langsam Wasser abgibt.
"Also selbst im Jahr 2018, als der Wasserstand überall total runter war, hat hier diese Quelle immer noch Wasser gegeben und hat das Wasser über das Fließgewässer-Ökosystem an den übrigen Wald abgegeben. Und dadurch ist der Wald eben auch gesund geblieben oder an vielen Stellen jedenfalls gesünder geblieben als woanders", sagt Knut Sturm.
Ökosystemleistung statt Holzmengen vergüten
Solche Maßnahmen kosten Geld, der Stadtwald wird von einer Stiftung unterstützt. Kritiker des Lübecker Modells bemängeln, dass dieses nur funktionieren könne, weil man nicht so viel Holz wie möglich verkaufen müsse, um zu überleben.
Doch genau in dieser Anforderung, die für viele Waldbesitzer und Förster Realität ist, liegt ein grundsätzliches Problem, sagt Torsten Welle, wissenschaftlicher Leiter der Naturwald Akademie in Lübeck.
"Wenn man es als Ökosystemleistung betrachtet, verdienen wir ja alle daran, an den Leistungen, die der Wald produziert und nicht nur an den schnöden Holzwerten. Nur den monetären Wert des Holzpreises zu nehmen und dadurch Druck auf den Wald zu entwickeln, finde ich nicht angemessen für die Leistung, die ein Wald bringt", kritisiert er.
Derzeit finden intensive Diskussionen statt, ob Waldbesitzer nicht dafür vergütet werden könnten, Wald aufzubauen, um mehr CO2 zu speichern und zur Kühlung des Klimas beizutragen.
"Dann könnte theoretisch der Waldbesitzer vor die Wahl gestellt werden: Okay, verkaufe ich mein Holz oder nehme ich quasi die Ökosystemleistung, die dann eventuell, wenn man einen CO2-Preis annimmt, vielleicht 50 Euro ist - weitaus mehr, als ich mit einem Holzpreis erwirtschaften könnte", erklärt Torsten Welle.
"Da muss der Waldbesitzende selber entscheiden, was für ihn jetzt gerade sinnvoller ist."
Wirtschaftswald oder Naturwald?
Über die Frage, welche Art Wald am meisten CO2 aus der Atmosphäre holen kann – der Wirtschaftswald oder der Naturwald – wird viel gestritten. Wer mit Holz Geld verdient, hält es in der Regel für sinnvoll, den Wald intensiv zu bewirtschaften, um möglichst viel CO2 in Holz und langlebige Produkte zu bringen.
Kritiker dieses Ansatzes verweisen dagegen auf die tatsächliche Holznutzung: Das meiste Holz würde zu Papier verarbeitet oder für die energetische Nutzung verbrannt – das CO2 also schnell wieder freigesetzt.
Torsten Welle von der Naturwald Akademie: "Im Wald ist es am besten aufgehoben, finde ich persönlich. Weil, hier können wir das CO2 quasi sehen oder durch den Vorrat eben den Kohlenstoff gespeichert sehen. Das ist auf jeden Fall eine gute Option, in solchen Laubmischwäldern den Vorrat nach oben zu bringen, um eben Kohlenstoff auch zusätzlich zu speichern."
Verglichen mit dem Lübecker Wald ist der Holzvorrat – die Anzahl der Bäume in den deutschen Wäldern – derzeit sehr niedrig, hier bestünde noch großes Potenzial, CO2 zu binden. Das wäre auch ein Beitrag, um dem Artensterben entgegenzuwirken. Über 4000 Pflanzen und Pilzarten und geschätzt 6000 Tierarten können in mitteleuropäischen Buchenwäldern vorkommen.
"Der Druck auf die Politik wächst"
2007 hat die Bundesregierung im Rahmen der nationalen Strategie zur biologischen Vielfalt das Ziel gesetzt, bis 2020 fünf Prozent der Wälder in Deutschland ganz aus der forstlichen Nutzung zu nehmen. Der Anteil solcher Naturwälder liegt heute bei mageren 2,8 Prozent. In der Politik scheinen die Produktion und die Nutzung von Holz im Vordergrund zu stehen, nicht der Erhalt des Ökosystems.
"Ich glaube, das wird sich in Zukunft ändern", hofft Torsten Welle. "Es gibt jetzt verstärkt auch Strömungen aus der Bevölkerung, die vielen Bundesbürger-Initiativen oder Initiativen generell, die sehen, dass mit dem Wald in Deutschland einiges nicht in Ordnung ist. Und diese Initiativen haben eben zugenommen – und der Druck auf die Politik wächst."
Niemand kennt die Antwort auf die Frage, welcher Wald dem Klimawandel zukünftig am besten trotzen kann. Der Lübecker Wald hat es zumindest in den vergangenen Dürrejahren geschafft. Ein hoher Baumbestand, das Ökosystem unterstützende Maßnahmen, weniger und schonende Entnahmen - der Wald der Zukunft, er könnte so aussehen wie in Lübeck, meint Torsten Welle.
"Von daher ist wirklich so ein Laubmischwald-System, ein naturnahes Laubmischwald-System, mit das Resilienteste, das Widerstandsstärkste. Die 70 heimischen Baumarten, die wir haben, die passen auch in unser Ökosystem", sagt er.
Trennung von Wald und Landwirtschaft aufheben
Professor Xiao aus Oklahoma hofft für die Zukunft auf Eigeninitiativen, wie die weltweit stattfindenden Pflanzaktionen und Aufforstungsprojekte, und auf die Aufhebung der Trennung von Wald und Landwirtschaft.
"Ich glaube, wir sollten uns bemühen, mehr Bäume zu pflanzen, um die Waldfläche zu vergrößern, am besten als Agroforst, also einer Kombination aus Wald und Ackerland. Diese könnte sowohl für die Landwirtschaft als auch für die Forstwirtschaft von Vorteil sein", erklärt er.
Kühe, Laubbäume und Getreide befinden sich gemeinsam auf einer Fläche. Erste Agroforst-Feldversuche finden bereits in Deutschland statt. Hendrik Hartmann vom Jenaer Max-Planck-Institut für Biogeochemie könnte sich zukünftig eine Aufteilung in spezialisierte Waldzonen vorstellen, wie sie etwa in Kanada praktiziert wird, "Zoning Approach" genannt.
"Das ist einmal so eine Hochproduktivzone, die wird dann oft in der Nähe auch von verarbeitenden Betrieben umgesetzt. Diese Fläche macht dann ungefähr zwischen fünf und acht Prozent aus", erzählt er.
"Dann gibt es eine Zone Wald, wo man Ökosystem-Bewirtschaftung gemacht hat, das heißt, man versucht, den Wald so zu bewirtschaften, wie es die Natur in gewisser Art und Weise tut. Und dann gab es einen großen Bereich, der dem Naturschutz mehr oder weniger überlassen ist."
Jana Ballenthien von Robin Wood hat für die Frage "Bewirtschaftung oder Naturschutz" wenig Verständnis. Denn ohne größeren Schutz und weniger Eingriffe, sagt sie, sei an Bewirtschaftung künftig gar nicht mehr zu denken.
"Wir sind dazu gezwungen, dass wir diesen Weg gehen, weil ansonsten werden wir in fünf bis 15 Jahren gar keine Wälder mehr haben, wenn die klimatischen Bedingungen sich weiter so zuspitzen", sagt sie voraus. "Wenn die intensive Waldbewirtschaftung weiter auf ihrer Spur bleibt und keine harte Fahrtumkehr fährt, dann werden diese Wälder nicht mehr existieren."