Kommentar

Warum Jugendliche im Internet mehr als nur Pornos finden

04:38 Minuten
Eine Frau in roter Unterwäsche posiert liegend. Die Aufnahme ist verfremdet und wie durch eine Glaskugel aufgenommen. Symbolbild für sexuelle Inhalte im Internet
Jederzeit und ohne große Hürden abrufbar: Sexuelle Inhalte im Internet © IMAGO / MAXPPP / LP / Arnaud Journois
Ein Kommentar von Charlotte Kunath · 04.07.2024
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Jugendliche entdecken ihre Sexualität heute im Internet. Woran dann fast alle denken: Pornos und Gewalt. Doch das sei ein allzu vereinfachtes und einseitiges Bild, vielmehr könne das Netz auch wichtige Hilfe sein, sagt die Sexualpädagogin Charlotte Kunath.
Gleich zu Beginn möchte ich einen Mythos auflösen, der das Thema Jugendliche und Sexualität im Internet umgibt: Die Vorstellung von unzähligen Grundschulkindern, die in Kontakt mit Pornografie kommen. Erhebungen zeigen, dass das durchschnittliche Alter für den Erstkontakt mit Pornos bei etwa 14 Jahren liegt. Das ist immer noch zu jung, denn pornografische Inhalte sind nur für Erwachsene geeignet und erst ab 18 erlaubt. Dazu kommt, dass der Erstkontakt häufig unfreiwillig ist, etwa wenn Bilder oder Videos im Klassenchat rumgeschickt werden.
Technische Lösungen sind in der Debatte um Jugendschutz beliebt. Die Vorschläge reichen von Altersverifikation via Kreditkarte oder Ausweis bis hin zu technischen Inhaltsfiltern. Das Problem: Die Altersverifikation speichert sensible Daten und lässt sich umgehen. Inhaltsfilter leiden unter Overblocking. Das heißt, sie sperren nicht nur Pornoseiten, sondern auch Seiten, die jungen Menschen Informationen zu Fragen rund um Coming-Out, queerem Leben oder sexueller Gesundheit geben.

Anonymer Schutzraum versus Risikobereich

Das ist dramatisch, denn das Internet ist eine Ressource in der sexuellen Bildung. Die Anonymität des Internets ist dann wichtig, wenn Unsicherheit und Scham ein Sprechen im direkten Kontakt erschweren. Sie spielen bei sexualitätsbezogenen Fragen häufig eine Rolle. Wenn wir fürchten, stigmatisiert oder abgelehnt zu werden, wird das Internet häufig zur zunächst einzigen Quelle für Informationen. Das betrifft vor allem queere Jugendliche.
Wenn ich wissen möchte, wie ich mich in meinem Umfeld als queer outen kann, dann kann ich niemanden in ebenjenem Umfeld fragen. Dann ist ein Buch vielleicht auch nicht die beste Lösung, denn das könnte von anderen entdeckt werden. Digitale Informationsangebote bieten in dem Fall einen Schutzraum für eine erste Auseinandersetzung mit der eigenen Identität.
Trotzdem gibt es Risiken im digitalen Raum. Diese lassen sich jedoch selten technisch wegfiltern. Meist sind sie menschengemacht. Grenzüberschreitungen und digitale Gewalt sind eine Gefahr, über die zu wenig gesprochen wird. Die Formen von Gewalt sind vielfältig und reichen von übergriffigen Nachrichten wie Dick Pics, über Erpressung mit Bildmaterial bis zu Stalking mittels Tracking Apps.

Den richtigen Umgang lernen

Hier braucht es statt technischer Lösungen ein unterstützendes Umfeld – und sexuelle Bildung. Sexuelle Bildung ist der Schlüssel, um jungen Menschen Kompetenzen zu vermitteln, damit sie ihren Weg sicher und selbstbestimmt gehen können – online wie offline.
Sie müssen lernen, eigene Grenzen zu setzen und die von anderen zu respektieren. Sexuelle Bildung vermittelt Medienkompetenz, um pornografische Inhalte einzuordnen, aber auch das Wissen, dass Jugendliche sich selbst strafbar machen, wenn sie Pornos im Chat mit Menschen unter 18 Jahren teilen. Zu einer sexpositiven sexuellen Bildung kann die Botschaft gehören: Es ist okay im wechselseitigen Einvernehmen, ein Nacktfoto zu verschicken. Und: Es ist strafbar, wenn es weitergeleitet wird. Sexuelle Bildung hilft mir zu wissen, was ich tun kann und was ich lieber sein lasse.
Die Herausforderung in der sexuellen Bildung ist es, Mehrdeutigkeiten und Ambivalenzen auszuhalten, die zum Leben wie zur Sexualität dazu gehören. Möglichkeitsräume entstehen nicht ohne Risiken. Ein Aufwachsen frei von Gefahren ist Utopie.
Jugendliche können aber lernen, mit diesen Risiken umzugehen. Dafür braucht es jedoch mehr als das eine Aufklärungsgespräch über den Schutz vor ungewollten Schwangerschaften oder Geschlechtskrankheiten. Vielmehr sind vielfältige Zugänge zu sexueller Bildung notwendig: Gespräche mit nahen Bezugspersonen, Workshops mit ausgebildetem Fachpersonal, Bücher, Serien und Filme mit zeitgemäßen Bildern und Botschaften, aber auch digitale Formen der sexuellen Bildung sowie den freien Zugang dazu für alle.

Charlotte Kunath, *1989, ist Soziologin, Sexualpädagogin und leitet das BiKoBerlin Institut für sexuelle Bildung. Sie leitet Workshops für Schulklassen und bildet Fachkräfte und Multiplikator*innen fort. 2022 hat Charlotte die dritte Staffel des sexualpädagogischen Podcasts „Frag mal Agi“ moderiert.

Charlotte Kunath sitzt vor einem grauen Studiohintergrund und schaut freundlich in die Kamera
© Frederik Ferschke
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