Wenn Lügen wahr werden
Opfer oder Lügner? Das ist die Frage bei dem ungarischen Juden Joschi Molnár, der jedem seiner drei Kinder, die er mit verschiedenen Frauen hatte, eine andere Lebensgeschichte erzählte. War er wirklich Häftling im KZ Buchenwald oder hat er sich seine Shoah-Biografie nur ausgedacht? Und was würde eine mögliche Fälschung für seine Nachkommen bedeuten?
30 Jahre nach seinem Tod treffen sich die Halbgeschwister zum ersten Mal, um in Weimar den 100. Geburtstag ihres Vaters zu begehen. Da ist Gabor, der mit sich selbst im Clinch liegt und grundsätzlich an der jüdischen Herkunft Joschis zweifelt. Die habe er, ein Aufschneider und erfolgloser Zocker erfunden, um sich vom deutschen Staat eine Entschädigung zu erschleichen. Hannah hingegen setzt als hoch identifizierte Vatertochter alles daran, ihr Glück bei einem jüdischen Ehemann in Israel zu finden, während Marika, die gelassenste von allen, in Joschi das Talent des Geschichtenerzählers bewundert, ein Erbteil, von dem sie alle drei in besonderer Weise zehren.
Vor allem trifft das auf Lily zu, Marikas 16-jährige Tochter, die den Großvater nur vom Hörensagen kennt. Sie erzählt diese Geschichte über die Suche nach der Wahrheit in der respektlosen Redeweise eines etwas altklugen Teenagers, der ohne Umschweife zugibt, welche Vorteile er daraus zieht, Enkelin eines NS-Opfers zu sein: "Wer einen jüdischen Großvater hat, ist automatisch bei den Guten". Verständlich, wenn man eine solch exklusive Rolle nicht gerne aufgeben mag.
Dass Susann Pásztor in ihrem literarischen Erstling die Perspektive einer Jugendlichen der dritten Generation wählt, ist mehr als ein wohlfeiler Schachzug. Auf diese Weise lassen sich geschickt die Themen Erinnerung, falsche Erinnerung und Verdrängung neu variieren, und nicht zuletzt gewinnt so der Roman, der davon handelt, wie sich der Holocaust über Generationen fortsetzt, bei aller Tragik eine hinreißende Leichtigkeit.
Die dramaturgisch versierte, 1957 geborene Debütantin trifft genau den Ton erbitterter Geschwisterfehden, in dem die Protagonisten ihre jeweilige Lesart der Geschichte als einzig gültige verteidigen, ebenso wie den des rasanten dialogischen Schlagabtauschs, den der rhetorisch Gewitzteste gewinnt; oder sie führt die Lebensweisheit einschlägiger Ratgeberliteratur ad absurdum, wenn sie eine Familienaufstellung als komisch-bizarres Spektakel inszeniert. Dabei stehen ihr aber durchaus auch Ernst und Strenge zur Verfügung, so in der eindrucksvoll-anrührenden Schilderung des Besuchs in Buchenwald.
Wie es Susann Pásztor schließlich gelingt, uns immer wieder glauben zu machen, die familiären Verstrickungen ließen sich entwirren und die Wahrheit komme mit Sicherheit ans Licht, um diese Erwartung dann klug und mit ganz speziellem Humor zu unterlaufen, das zeugt von dramaturgischer Könnerschaft. Denn am Ende wissen wir zwar nicht, wer Joschi Molnár wirklich war, ob ein Betrüger, eine tragische Figur oder beides. Doch wir haben einmal mehr, und zwar überaus unterhaltsam erfahren, wie wenig verlässlich Erinnerung ist, und dass eine Lüge möglicherweise irgendwann zur Wahrheit wird, wenn man sie nur oft genug erzählt. Wer weiß.
Besprochen von Edelgard Abenstein
Susann Pásztor: Ein fabelhafter Lügner
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2010
208 Seiten, 17,95 Euro
Vor allem trifft das auf Lily zu, Marikas 16-jährige Tochter, die den Großvater nur vom Hörensagen kennt. Sie erzählt diese Geschichte über die Suche nach der Wahrheit in der respektlosen Redeweise eines etwas altklugen Teenagers, der ohne Umschweife zugibt, welche Vorteile er daraus zieht, Enkelin eines NS-Opfers zu sein: "Wer einen jüdischen Großvater hat, ist automatisch bei den Guten". Verständlich, wenn man eine solch exklusive Rolle nicht gerne aufgeben mag.
Dass Susann Pásztor in ihrem literarischen Erstling die Perspektive einer Jugendlichen der dritten Generation wählt, ist mehr als ein wohlfeiler Schachzug. Auf diese Weise lassen sich geschickt die Themen Erinnerung, falsche Erinnerung und Verdrängung neu variieren, und nicht zuletzt gewinnt so der Roman, der davon handelt, wie sich der Holocaust über Generationen fortsetzt, bei aller Tragik eine hinreißende Leichtigkeit.
Die dramaturgisch versierte, 1957 geborene Debütantin trifft genau den Ton erbitterter Geschwisterfehden, in dem die Protagonisten ihre jeweilige Lesart der Geschichte als einzig gültige verteidigen, ebenso wie den des rasanten dialogischen Schlagabtauschs, den der rhetorisch Gewitzteste gewinnt; oder sie führt die Lebensweisheit einschlägiger Ratgeberliteratur ad absurdum, wenn sie eine Familienaufstellung als komisch-bizarres Spektakel inszeniert. Dabei stehen ihr aber durchaus auch Ernst und Strenge zur Verfügung, so in der eindrucksvoll-anrührenden Schilderung des Besuchs in Buchenwald.
Wie es Susann Pásztor schließlich gelingt, uns immer wieder glauben zu machen, die familiären Verstrickungen ließen sich entwirren und die Wahrheit komme mit Sicherheit ans Licht, um diese Erwartung dann klug und mit ganz speziellem Humor zu unterlaufen, das zeugt von dramaturgischer Könnerschaft. Denn am Ende wissen wir zwar nicht, wer Joschi Molnár wirklich war, ob ein Betrüger, eine tragische Figur oder beides. Doch wir haben einmal mehr, und zwar überaus unterhaltsam erfahren, wie wenig verlässlich Erinnerung ist, und dass eine Lüge möglicherweise irgendwann zur Wahrheit wird, wenn man sie nur oft genug erzählt. Wer weiß.
Besprochen von Edelgard Abenstein
Susann Pásztor: Ein fabelhafter Lügner
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2010
208 Seiten, 17,95 Euro