Georges Perec: "Das Leben: Gebrauchsanweisung"
aus dem Französischen von Eugen Helmlé
Diaphanes, Zürich 2017
850 Seiten, 25 Euro
Der französische James Joyce
Er schreibt Romane ohne den Buchstaben E und strukturiert seine Werke nach mathematischen Vorgaben: In Frankreich gilt Georges Perec als Meister-Schriftsteller - jetzt wird er in Deutschland wiederentdeckt. Literaturwissenschaftler Jürgen Ritte über seinen virtuosen Umgang mit Buchstaben und Worten.
Auf den ersten Blick scheint an diesem Satz aus dem Roman "La Disparition" von Georges Perec nichts außergewöhnlich zu sein: "Wo bald schon klar wird, dass damit Fluch und Qual anfängt." Doch auf den zweiten Blick fällt auf: Der Buchstabe E fehlt darin komplett. Auch im weiteren Verlauf des Buchs taucht der Buchstabe nicht auf. Geschrieben hat Perec diesen Roman im Jahr 1969 im Alter von 33 Jahren - erst 2013 erschien er auch auf Deutsch, in der Übersetzung von Eugen Helmlé unter dem Titel "Anton Voyls Fortgang".
Heute zählt der im Alter von 46 Jahren verstorbene Perec zu den bedeutendsten Schriftsteller Frankreichs nach dem Zweiten Weltkrieg. In Deutschland hingegen wurde er nie sonderlich populär. Doch hier tut sich zur Zeit etwas: Mit "Das Leben. Gebrauchsanweisung" und "Die dunkle Kammer. 124 Träume" kamen kürzlich zwei Perec-Bücher in neuen Ausgaben heraus. Wir sprechen mit Jürgen Ritte, Professor an der Sorbonne und Perec-Experte.
Joachim Scholl: "Georges Perecs Bedeutung wächst stündlich." Dieser Satz von Ihnen wird oft zitiert, Jürgen Ritte. Woran machen Sie das fest?
Jürgen Ritte: Weil ich doch merke, dass er auch in Deutschland endlich ankommt. Das meinte ich damals wohl damit, als ich gesagt habe, seine Bedeutung wächst stündlich. Sie wuchs auf jeden Fall stündlich für mich, seitdem ich ihn zum ersten Mal gelesen habe, und das ist jetzt schon sehr, sehr lange her, weit über 30 Jahre.
Literatur auf die Füße gestellt
Scholl: Was fasziniert denn Sie so persönlich an ihm besonders?
Ritte: Das war erst das Erstaunen über das, was man alles aus Buchstaben und Zahlen und Wörtern so machen kann, wie er damit jongliert, virtuos, im Grunde genommen wie ein Komponist mit seinen zwölf Tönen. Das war eine Überraschung, eine andere Art und Weise, mit Literatur umzugehen oder uns zu zeigen, woraus Literatur gemacht ist. Nämlich aus Sprache, aus Buchstaben, aus Kombinationen von dem Ganzen. Das war eine Art und Weise, Literatur auf die Füße zu stellen und zu sagen: Schaut her, so geht das.
Es gibt Regeln, und nach diesen Regeln arbeiten wir. Da ist nichts Geheimnisvolles, nichts Mysteriöses dabei. Es ist ein Handwerk, ein virtuoses Handwerk – das muss man auch können, das muss man auch beherrschen, aber es hat nichts mit Inspiration, mit irgendwelchen Musenküssen und so weiter zu tun. In dieser Hinsicht war Perec einfach ein ganz virtuoser Künstler.
Die historische Erfahrung des Verschwindens
Sie haben ja gerade diesen Roman "La Disparition" erwähnt, den Roman ohne E. Und beim zweiten Hinblick, beim zweiten Hinschauen merkt man auch, dass dass nicht nur einfach Spielerei ist, wenn er einen Roman schreibt, in dem etwas verschwindet, in dem ein E verschwindet. Wir erfahren doch sehr schnell, dass es in dem Roman drunter und drüber geht.
Es ist ja schon in der Ansage von Fluch die Rede. Sie haben es eben zitiert. Es geht drunter und drüber, es ist alles durcheinander. Und wenn man genauer hinschaut, genauer liest, dann sieht man: Perec ist jemand, der schreibt um das Verschwinden herum und hier ganz biografisch und historisch um das Verschwinden herum: seine eigenen Eltern. Der Vater ist 1940 auf dem Schlachtfeld gegen die anrückenden Deutschen gestorben, seine Mutter nach Auschwitz deportiert und vergast worden. Das Verschwinden meint eben auch ein Verschwinden aus der Geschichte. Es meint die Vernichtung, die der Hintergrund ist, vor dem Perec auch schreibt. Es ist sehr vielschichtig. Das ist nicht nur einfache Spielerei, es ist eine Art und Weise, damit umzugehen.
Das Paradox der Freiheit unter Regelzwängen
Scholl: Mit Georges Perec ist untrennbar Oulipo verbunden, "l’ouvroir de littérature potentielle", die Werkstatt für potenzielle Literatur. Was ist das für eine Vereinigung gewesen, Herr Ritte?
Ritte: Das sind alles Freunde von Perec gewesen, unter anderem waren auch Autoren wie Italo Calvino dabei, die wir ja in Deutschland auch kennen. Raymond Queneau oder, als Deutscher, Oskar Pastior. Was man sich dort vorgenommen hat, ist, kurz gesagt: Wir schreiben nach Regeln, wir suchen nach Regeln, die es immer gegeben hat.
Eine ist das berühmte Leipogramm – ein Leipogramm ist eben ein Text, der auf einen bestimmten Buchstaben verzichtet. Oder Anagramme – man nimmt einen Satz vom Buchstaben, den man immer wieder neu permutiert, daraus macht man Gedichte. Oder man erfindet noch ganz andere mathematische Regeln, nach denen man schreibt. Die Oulipoden sagen selber von sich: Wir sind die Ratten, die den Weg aus dem selbstgebauten Labyrinth suchen. Das heißt, sich ein festes Regelwerk nehmen, ein selbstgesetztes festes Regelwerk, und danach zu schreiben. Das ist Befreiung von der Geschichte, das ist überhaupt ein Akt der Freiheit. Das ist das Paradoxon an diesen Regelzwängen, die sich diese Leute in der Werkstatt für potenzielle Literatur auferlegen.
Mathematische Vorgaben
Scholl: Am schönsten, sagen Kenner, sei diese Schreibweise aber auch in Perecs Hauptwerk zu beobachten, in dem Großroman, fast 900 Seiten stark, "Das Leben: Gebrauchsanweisung". Da schildert Perec in 99 Kapiteln die Bewohner eines Pariser Hauses, 1.467 Personen sollen es insgesamt sein. Wie macht er das?
Ritte: Im Untertitel steht ja auch "Romane", Plural. Es sind viele Romane in einem. Er nimmt die Fassade von dem Haus wie einer Puppenstube. Dann geht er von einem Zimmer zum anderen, wobei die Folge der Kapitel wieder einem mathematischen Regelwerk folgt. Er hat sich das Ganze aufgerastert auf ein zehn mal zehn Felder großes Schachbrett und setzt einen Springer darauf. Und dieser Springer muss auf seinem Parcours jedes Feld einmal – und nur einmal – besetzt haben. Das ist ein mathematisches Problem, das man lösen kann, und das ist jetzt die Regel für die Kapitelfolge in dem Werk.
Aber Sie merken an solchen Regeln, dass man das Buch mit einem unglaublichen Spaß lesen kann, mit einer unglaublichen Freude, mit einem Lustgewinn an den ganzen Geschichten, die er da zusammenerfindet und uns erzählt, ohne dass man diese Regeln kennt. Das sind Regeln, die ihm, dem Autor, helfen, etwas zustande zu bringen. Man kann sich daran erfreuen, dass man sie erkennt, dass man sie identifiziert, aber es funktioniert auch sehr, sehr gut, wenn man diese Sachen gar nicht weiß.
Der Kopf schwummert
Scholl: Mir ist es genauso gegangen, Herr Ritte. Ich habe einfach angefangen zu lesen, 100, 200 Seiten, und habe ein größtes Vergnügen gehabt, und dann habe ich nach hinten in die Anhänge geblättert. Da wird dann erklärt, wie das gemacht ist. Da kommt das orthogonale, lateinische Biquadrat der Ordnung zehn zur Sprache, da schwummert es ja schon in meinem Kopf. Also das ist die Mathematik des Rösselsprungs beim Schach, das haben Sie schon erklärt. Ich habe es trotzdem, ehrlich gesagt, nicht kapiert, wie Perec das in Literatur überführt. Ich habe dann so zurückgeblättert und dachte, braucht es das eigentlich?
Ritte: Das braucht es nicht unbedingt. Nur, man kann diesen Roman jetzt so erzählen, dass man sagt: Ich gehe von Zimmer zu Zimmer, erster Stock, zweiter Stock, dritter Stock da durch, man kann sich aber eben auch selbst ein Regelwerk setzen, wie wir das jetzt machen wollen. Das ist dieses. Es ist, wie gesagt, nicht essenziell für den Leser, das zu wissen. Der ganze Roman beruht auf ganz, ganz komplexen permutativen Verfahren.
Er hat ein Auftragsbuch angelegt, Perec, das kann man sogar heute als Faksimile erwerben, ein Auftragsbuch angelegt, in dem verschiedene Serien aufgelistet sind – von Gegenständen, von Personen, von Zitaten, die pro Kapitel auftauchen müssen. Jeder Aschenbecher, der in irgendeinem Kapitel auftaucht und die Form eines jeden Aschenbechers, ein Oktogon beispielsweise oder ein Sechseck, alles das ist bei Perec schon in diesem Auftragsbuch vorgeschrieben. Aber wir als Leser brauchen das nicht zu wissen. Es ist eine Produktionsanleitung zur Literatur. Und das ist eine Art und Weise, Literatur in der Tat auf die Füße zu stellen: So können wir es machen, so geht es. Und dann kommt so etwas dabei raus.
Vergleichbar mit James Joyce
Scholl: Man vergleicht ja dieses Werk in seiner Monumentalität auch durchaus mit den Werken von James Joyce. Hat Perec für Sie diesen Rang?
Ritte: Ja, auf jeden Fall, auf jeden Fall, und ich glaube, ich bin da nicht ganz alleine als Aficionado, der das sagt: Italo Calvino hat posthum eine Schrift mit Vorlesungen an der Harvard Universität hinterlassen. Die heißt "Sechs Vorschläge für das nächste Jahrtausend", das hat er Ende des 20. Jahrhunderts geschrieben. Dort endet er im Grunde genommen mit dem Satz, der fortgeschrittenste Zustand der modernen Romanliteratur, das ist Georges Perec. Und das stimmt.
Georges Perec steht in einer Linie mit Autoren wie Joyce. Dessen "Ulysses"ist ja auch ein Roman, der nach einer solchen Vorgabe funktioniert. Nur bei Joyce liegt das Ganze offen zutage. Er sagt: Okay, ich lasse jetzt meinen Leopold Bloom, diesen Dubliner, durch Dublin laufen, sozusagen auf dem Muster der Odyssee. Alles das, was in der Odyssee in den verschiedenen Kapiteln passiert, das passiert – transponiert an den Anfang des 20. Jahrhunderts – jetzt diesem Leopold Bloom. Autoren haben immer mit solchen Rezepturen gearbeitet.
Herausforderung beim Übersetzen
Scholl: Bei diesen Autoren ist auch immer die Übersetzerleistung ganz erheblich. Für Georges Perec war Eugen Helmlé ganz entscheidend hier in Deutschland. Man muss noch hinzufügen, dieser Roman ohne E, das hat Helmlé wirklich auch in der deutschen Übertragung geschafft. Das ist eigentlich unglaublich. Ein deutscher Roman ohne den Buchstaben E. Sie, Herr Ritte, haben im vergangenen Jahr "Die dunkle Kammer" übersetzt. Wie schwer ist Ihnen das gefallen, ist Perec eine harte Nuss für Übersetzer?
Ritte: Im Vergleich zu dem, was Eugen Helmlé mit dem Roman ohne E gemacht hat, ist es eher eine Übung gewesen, nicht ganz so schwer. "Die dunkle Kammer", das sind Traumprotokolle. Perec hat über vier Jahre lang notiert, was er träumte und diese Träume einfach aneinandergereiht.
Buchstabendreher im Traum
Die meisten Perec-Freunde konnten mit dem Buch bisher relativ wenig anfangen. Alle haben sich am Kopf gekratzt und sich gefragt, wo ist da jetzt die Regel, was ist denn jetzt da passiert, da schreibt jemand unter Traumdiktat, das darf ja eigentlich gar nicht wahr sein!
Aber in den Träumen kommen bei Perec auch hier und da Sprachspiele vor. Buchstabendreher und so weiter. Das sind dann kleinere Probleme für einen Übersetzer. Nicht zu vergleichen mit dem, was Eugen Helmlé sich ausdenken musste, um "La Disparition" zu übersetzen. Aber Helmlé war hinterher so gut im Tritt, dass er selbst zwei Romane geschrieben hat, die sukzessive auf einzelne Buchstaben verzichten. Wenn man einmal reingefallen ist, wie Obelix in den Zaubertrank, kommt man gar nicht mehr raus!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Georges Perec: "Die dunkle Kammer. 124 Träume"
Übersetzt von Jürgen Ritte. Mit einem Nachwort von Jürgen Ritte.
Diaphanes, Zürich 2017
256 Seiten, 24 Euro
Veranstaltungshinweis: Am 18. Januar eröffnet im Berliner Diaphanes-Verlagshaus eine von Jürgen Ritte kuratierte Ausstellung zur "Werkstatt für potenzielle Literatur". Weitere Informationen dazu auf der Website des Verlags.