Xiao Bai: "Die Verschwörung von Shanghai"
Aus dem Englischen von Lutz-W. Wolff
Insel-Verlag, Berlin 2017
426 Seiten, 22,00 Euro
Grandioses Verwirrspiel
Bai Xiao ist der erste Krimiautor, der in China lebt, publiziert und der ins Deutsche übersetzt wurde. Unser Kritiker ist von "Die Verschwörung von Shanghai" begeistert. Der Krimi sei ein grandioses Verwirrspiel aus dem Shanghai vor der Revolution.
Bisher war den deutschen Krimilesern nur ein zeitgenössischer Autor aus China bekannt: Qiu Xiaolong. Qiu war nach dem Massaker auf dem Tiananmen 1989 als Student in den USA geblieben, wo er inzwischen chinesische Literatur lehrt. Seine neun differenzierten Romane um Oberinspektor Chen erzählen von den Schwierigkeiten ehrlicher Polizeiarbeit unter den Bedingungen eines kommunistisch regierten, immer kapitalistischer werdenden Regimes und geben einen tiefen Einblick in die Umbruchzeit Chinas seit Deng Xiao Ping in den 80er Jahren die Parole "Bereichert Euch" ausgegeben hatte.
Eine exotische Kolonialgeschichte aus dem Jahr 1931
Qiu Xiaolong allerdings schreibt in Englisch über das Schanghai von heute. Der fünfzehn Jahre jüngere 1968 geborene Bai Xiao nun schreibt Chinesisch über das Schanghai vor der Revolution. Damit ist Bai Xiao der erste Autor von Kriminalliteratur, der in China lebt und veröffentlicht, den wir auf Deutsch lesen können. Und was für einer!
Chinesische Kritiker verglichen "Die Verschwörung von Shanghai" entzückt mit Balzac und glaubten, bei der Lektüre die Gerüche und Geräusche des alten Shanghai wahrzunehmen. Es ist Epoche des großen Umbruchs vor Weltkrieg und Revolution. 1931 schalten und walten die alten Kolonialmächte vor dem Hintergrund ihrer extraterritorialen Konzessionen noch, wie es ihnen beliebt. Die Macht im Rest der Stadt teilen sich das Militär der nationalistischen Regierung Chiang Kai-sheks und die mächtige Green Gang. Im Untergrund agitieren verdeckt operierenden Zellen der Kommunistischen Partei, am Horizont rasseln die invasionslüsternen Japaner mit den Säbeln.
Dieses selbst für chinesische Leser wohl schwer durchschaubare Kuddelmuddel bildet Bai Xiao mit einer gefühlten Zahl von fünfzig Figuren aller Nationalitäten, Konfessionen und Schichten ab. Andererseits reduziert er wie ein guter Koch die Konflikte und das Personal wirksam auf die klassische Konstellation eines Mannes zwischen zwei Frauen.
Agenten, Kommunisten, Dandys
Im Zentrum taumelt somnambul der Fotograf Hsueh Weiss, halb Chinese, halb Franzose. Ihn fasziniert die melancholische Frau Leng. Er hat beobachtet, wie ihr Mann, der Chef der nationalistischen Militärjustiz, ermordet wurde, und vermutet zu Recht, sie habe von den Attentatsplänen gewusst. Leng ist glühende Kommunistin und gehört zur Zelle des charismatischen Agenten Ku. Der wiederum braucht Waffen für Bankraub und Revolution. Das macht ihn zu einem Geschäftspartner der Weißrussin Therese Irxmayer.
Und diese Kurtisane des Waffenhandels hält sich den mageren, aber properen Hsueh Weiss als Gespielen. Dieser wiederum will eigentlich nur das Schöne im Leben haben, und da er nichts kann außer Fotografieren, versucht er es durch Aufschneiden und Geplapper. Das macht ihn zum Lieblingsagenten der französischen Konzessionspolizei. Als Agent Ku, das finstere Epizentrum des Romans, erst einen fetten Deal mit Schnellfeuergewehren deutscher Bauart, dann einen Banküberfall und zwischendurch einen ganz persönliches Racheattentat durchzuziehen versucht, wird es eng für Dandy Hsueh.
Auch ein Roman über das Undurchdringliche
All das ist ein bisschen unübersichtlich wegen der vielen Figuren und rasend wechselnden Schauplätze. Liest man langsam und genau, tauchen lauter winzige sprachliche Perlen im Thrillergewebe auf. Etwa: "Manchmal rettet einen eine Pistole und manchmal ein einzelnes feuchtes Schamhaar." Zwischen jeder Menge Intrige, Politik, explizitem Sex und explosiver Gewalt tauchen ganz andere Fragen auf. Wie sehr bestimmen feste ideologische Überzeugungen das individuelle Handeln? Oder hat die kommunistische Partei, deren Zensurbehörde ja Bai Xiaos Roman abgenommen hat, immer recht oder nur das letzte Wort?
Es lohnt sich, dieses grandiose Verwirrspiel zwei Mal zu lesen: Einmal als spannendes Stück exotischer Geschichte und einmal als Roman über das Undurchdringliche. Dem hat Bai Xiao noch einen hübsch ausgeschmückten Anhang mit Dokumenten aus dem Shanghaier Stadtarchiv gewidmet. Wenn man das chinesische Aktenzeichen dieser Dokumente entschlüsselt, kommt das englische Wort "Joke" heraus.