Zeitzeugen in der Öffentlichkeit

Gefühlte Geschichte

Ehemaliger politischer Gefangener Gilbert Furian in Gefängniszelle der Gedenkstätte Zuchthaus Cottbus
Ehemaliger politischer Gefangener in der Gedenkstätte Zuchthaus Cottbus: Trügt seine Erinnerung? © picture alliance / dpa / Patrick Pleul
Von Christoph Richter · 26.08.2015
Ob in Gedenkstätten, der politischen Bildungsarbeit oder den Medien - überall berichten Zeitzeugen von ihren Erlebnissen der jüngeren deutschen Geschichte. Doch der Einsatz ist umstritten, denn ihr Geschichtsbild ist äußerst subjektiv.
Zeitzeugen der SED-Diktatur spielen Theater. Sie erzählen ihre beklemmende Haft-Geschichte und zeigen dem Zuschauer, wie brutal die Staatssicherheit der DDR vorgegangen ist, um ihre Opfer zu demütigen, zu entwürdigen und ihnen ihre Persönlichkeit zu nehmen. Staats-Sicherheiten heißt das Theaterprojekt des Potsdamer Hans Otto Theaters, in dem Zeitzeugen die Bühne erklommen haben, um ihre Erinnerungen der Theateröffentlichkeit zu erzählen.
Zeitzeugen haben Konjunktur. Ob Luftwaffenhelfer, Swing-Jugendlicher, Stasi-Häftling oder BND-Spion: Viele Zeitzeugen treten tagtäglich in Gedenkstätten auf, machen Führungen, halten Vorträge am Fließband und erzählen, überspitzt gesagt, ihre Lebensgeschichte im Stundentakt. Andere gehen regelmäßig in Schulklassen oder sind für die Medien und Filmemacher allgegenwärtige Geschichts-Experten. Zeitzeugen beanspruchen Deutungshoheit. Die so weit geht, dass Zeitzeugen gar juristisch gegen wissenschaftliche Publikationen vorgehen, weil sie sich im falschen Licht dargestellt, ihre Lebenserfahrungen durch Historiker nicht vollends gewürdigt sehen.
Denn das Zeitzeugen-Credo lautet: Ich habe recht, schließlich habe ich die Zeit erlebt. Einer der Gründe, weshalb vor etwa 20 Jahren das Bonmot vom Zeitzeugen als den natürlichen Feind des Historikers geboren wurde. Andere sprechen gar von einer "schleichenden Entmachtung der Historikerzunft".
"Fast jeder Historiker und jede Historikerin wird das schon mal erlebt haben. Manche erleben das richtig oft, dass sie Vorträge halten oder ihre Sicht der Dinge wiedergeben, die oft auf jahrelanger stupider Quellenarbeit basieren und dann melden sich Leute und sagen - ja, das habe ich ganz anders elebt."
Ilko-Sascha Kowalczuk. Historiker, Mitarbeiter der Stasi-Unterlagenbehörde und Autor zahlreicher Bücher zur DDR-Geschichte. Aktuell sitzt er an einer Biografie über Walter Ulbricht.
"Die Erzählungen von vielen Zeitzeugen sind ganz oft nicht die Erzählungen über das historische Ereignis von damals. Sondern sie verraten vor allen Dingen sehr viel, wie der Zeitzeuge heute darüber nachdenkt. Denn alles, was wir über Erinnerung wissen, läuft auch darauf hinaus, dass das ganz oft gar nicht mit dem Gewesenen, mit der Realität – was auch immer das sein soll: die historische Realität – zu tun hat; sondern mit der Person, die das heute erzählt. Mit ihrer Position heute zur Geschichte, auch mit ihren Erfindungen. Das gehört dazu."
Zeitzeugen berichten nur, woran sie sich erinnern
Für viele Geschichtswissenschaftler ein großes Problem. Denn Zeitzeugen berichten nicht von dem, was sie erlebt haben, sondern – so zumindest beschreibt es Historiker Martin Sabrow vom Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam. Zeitzeugen erzählen das, woran sie sich erinnern, was sie letztes Mal erzählt haben. Und so würden sich Erinnerungen, wie es Martin Sabrow etwas überspitzt formuliert, wie "stille Post" verändern. Schließlich wolle der Zeitzeuge auch ein gute Story verkaufen, so wie man es selbst kennt, wenn man Anekdoten aus seinem eigenen Leben erzählt.
Und: Zeitzeugen erzählen bruchstückhaft, verzetteln sich in Details, im zunehmenden Alter werden Dinge hinzugedichtet, auch weil Erinnerungsfetzen verblassen oder verwechselt und durcheinander gebracht werden werden. Historiker Björn Bergold sieht das so:
"Natürlich geht mit der Quellensorte Zeitzeuge gehen auch Gefahren, Risiken einher. Die Quelle Zeitzeuge ist nicht die Quelle, der wir mit 100-prozentiger Sicherheit glauben können. Insofern gibt er uns Einblick in die Vergangenheit, aber nicht ohne Fragezeichen. Aber das gilt für andere Quellen auch. Und insofern ist dieses Bonmot vom Zeitzeugen als Feind des Historikers eine Zuspitzung. Aber die wird eindeutig differenzierter betrachtet. Und wir können viel davon lernen, wenn wir Zeitzeugen – aus der Vergangenheit stammende Erinnerungen – auch heute noch befragen als Historiker."
Der Erfurter Historiker Björn Bergold ist Mitarbeiter einer wissenschaftlichen Arbeitsgruppe an der Universität Magdeburg, die unter der großen Überschrift Geschichtsaneignungen, unter anderem die Widersprüche und persönlichen Strategien von Zeitzeugen erforschen, die ihre Vergangenheit zum Beruf gemacht haben.
"Der Zeitzeuge wandert zwischen der Vergangenheit in unsere Gegenwart hinein und bringt seine Erinnerung eben mit. Und natürlich geht damit eine hohe Deutungsmacht einher. Klar. Er möchte seine Errinnerungen präsentieren. Und Zeitzeugen haben eine ganz spezielle, eigene Sicht auf die erlebten Ereignisse."
Ohne Zeitzeugen geht es auch nicht
Weshalb Historiker und Filmemacher historischer Stoffe aufgefordert sind, die Quelle Zeitzeuge äußerst sorgfältig zu prüfen. Ohne Zeitzeugen gehe es aber nicht, sagt Fernsehautorin Katja Wildermuth. Beim Mitteldeutschen Rundfunk in Leipzig ist sie die Redaktionsleiterin der Abteilung Geschichte und Gesellschaft.
"Wir versuchen schon sehr beim MDR, dass wir – und das machen wir, indem wir Zeitzeugen-Aufrufe machen – dass wir an Menschen kommen und dass Menschen zu uns kommen, die noch nicht gesprochen haben. Also ich hab auch eine gwisse Skepsis gegenüber dem Standard-Zeitzeugen, der dann immer wieder von allen Medien vor die Kamera, vors Mikrofon geholt wird."
Aber eins, so Katja Wildermuth, dürfe nicht vergessen werden: Viele Opfer der SED-Diktatur beispielsweise leiden noch heute unter den Folgen. Für sie hat das Erzählen eine wichtige Funktion: als Akt der Befreiung von den quälenden Erlebnissen, als Hilferuf nach Anerkennung. Indem sie als Zeitzeugen auftreten, erhalten sie verlorene Würde zurück. Auch wenn es für Außenstehende manchmal irritierend ist, wenn Zeitzeugen in Diskussionen und Debatten, in denen sie sich schon mal im Ton vergreifen, aufgeregt und hitzig darum kämpfen, dass nur ihre Sicht der Dinge gelten dürfe. Für sie geht es um die Verarbeitung von Erlittenem. Für Geschichtswissenschaftler bleibt dennoch die Arbeit, die Erzählungen der quellenkritischen Prüfung zu unterziehen.
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