Alles Theater, alles Spiel

Ein Mann verliert Frau und Katze, hört auf zu arbeiten, kündigt die Wohnung, verreist und erinnert sich an sein Leben. Matthias Zschokkes kauziger Held ist ein selbstbewusster Gesellschaftskritiker, dessen unbestechlicher Blick den Alltag seziert.
Das Gewöhnliche ungewöhnlich erscheinen zu lassen, ist eine Spezialität des gebürtigen Schweizers und seit über 30 Jahren in Berlin lebenden Autors Matthias Zschokke. Das beginnt schon bei den Titeln. Seine Romane benennt er gerne schlicht nach ihren Helden. Sie heißen "Max" oder "Maurice mit Huhn", "Der dicke Dichter", "Prinz Hans" und – so das jüngste Werk – "Der Mann mit den zwei Augen".

Kommen diese Titel auch verspielt daher, so werfen die Figuren im Roman nicht selten existenzielle Fragen auf. Zschokke erzählt von der Selbstverständlichkeit deformierten Lebens in der modernen Welt. Seine Protagonisten sind Artisten des Daseins, Wahrnehmungskünstler, hochsensible, eigenwillige Zeitgenossen, Flaneure im Kosmos allgemeinen Wahnsinns. Heiter erzählt Zschokke von ihnen, leicht und souverän. Dort, wo Thomas Bernhard in endlosen literarischen Umdrehungen sich erhitzt, schwebt bei Zschokke, der nicht minder misanthropisch, voll Wut und Ekel über Absurdität und Zumutungen des Lebens sich auslassen kann, letztlich immer ein Lächeln über den fein gearbeiteten Texten, widerspenstig und melancholisch zugleich, voller Staunen über das, was sich ihm bietet. Es signalisiert lustvoll: alles Theater, alles ein verzweifeltes Spiel.

Der Mann mit den zwei Augen, von dem erst am Ende des neuen Romans angedeutet wird, dass er Philibert heißen könnte, ist ein 56-jähriger Gerichtsreporter "in der Hauptstadt". Er hört auf zu arbeiten, als ihm von einem Tag auf den anderen Katze und Frau wegsterben. Die Katze aus Altersschwäche, die Frau aus Müdigkeit.

Der Mann kündigt die Wohnung und reist, nur wenige Habseligkeiten im Koffer, in eine ihm bislang unbekannte Kleinstadt. Mietet sich dort in einer Pension ein und erinnert sich des Lebens, das er bis bislang geführt hat. Man erfährt vom Zusammenleben mit der verstorbenen Frau, seinen Eigenarten, darunter auch von der durch gymnasialen Griechisch-Unterricht angeregten Neugier, in "sodomitische Praktiken" eingeführt zu werden. Die Gastwirtin Rosaura vermittelt ihm einen jungen Mann, "der auf dem Gebiet des Hinterladens erfahren ist". Doch wahre Freude vermag der Mann mit den zwei Augen nicht zu fühlen. Nach knapp 250 Seiten, sein Geld ist mittlerweile aufgebraucht, verabschiedet er sich mit der Ankündigung, sich erhängen zu wollen.

Zschokkes "Mann mit den zwei Augen" ist eine kauzige Figur, ein selbstbewusster "Idiosynkratiker", ein Gesellschaftskritiker, dessen unbestechlicher Blick sich durch enorme Tiefenschärfe auszeichnet. Seine Beobachtungen, Gefühlszustände und Ticks sind präzise, leicht, ironisch, unterhaltsam und mit großer Sprachlust geschildert. Der Autor lässt ihn seinen Alltag sezieren, hebt diesen so aus seiner scheinbaren Banalität und entwickelt aus ihm neue Geschichten. Zschokke beherrscht als Autor das Magische: Aus nichts macht er etwas und indem er das Leben in seiner Bizarrerie beschreibt, erhält es Wert und Gewicht, Anmut und Glanz.

Besprochen von Carsten Hueck

Matthias Zschokke: Der Mann mit den zwei Augen. Roman
Wallstein Verlag, Göttingen 2012
242 Seiten, 19,90 Euro
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