Auch eine Demokratiekrise kann nur demokratisch gelöst werden!

Von Günter Müchler |
Der Katechismus der Demokratie enthält eine Reihe von Glaubenssätzen, die uns die Politische Bildung eingehämmert hat und die bisher außerhalb jeder vernünftigen Diskussion standen. Der erste lautet: Die Demokratie ist wohl keine ideale Regierungsform. Der zweite: Aber der Geschichte ist eine bessere nicht eingefallen.
Dieser Doppeltsatz bildet so etwas wie den Minimalkonsens unseres politischen Zusammenlebens. Unerschütterbar hat er allen Anfechtungen wechselhafter Zeiten standgehalten.

Das könnte bald vorbei sein. Hinter vorgehaltener Hand, und doch unüberhörbar, wird die Frage aufgeworfen, ob unsere Demokratie in der Lage ist, die gegenwärtige Krise zu bewältigen. Ist die eigentliche Krise, in der wir stecken, vielleicht die Krise der Demokratie?

Es wäre falsch, der Frage auszuweichen. Gewiss, sie ist tief beunruhigend wie alles, was an die Fundamente rührt. Auch verträgt sie keine schnellen und einfachen Antworten. Schließlich ist eine halbwegs überzeugende Alternative zur repräsentativen Demokratie weder gedanklich noch praktisch in Sicht. Insofern stimmt der politische Katechismus also noch. Der Punkt ist, dass die schon immer vorhandenen Schwächen dieses Ordnungssystems heute deutlicher als je hervortreten.

Zu ihnen gehört die Schwierigkeit, Mehrheiten für langfristig angelegte und Härten erfordernde Handlungskonzepte zu gewinnen. Diese Schwierigkeit hängt mit der zentralen demokratischen Spielregel zusammen, die vorsieht, dass die Bürgerinnen und Bürger in regelmäßigen Abständen die Gelegenheit erhalten müssen, die aktuelle Regierung nach Hause zu schicken und sie durch die Opposition zu ersetzen.

Die Taktzahl der Prüftermine ist groß, besonders in unserem Bundesstaat. In Deutschland müssen die um Machterhalt und Machterwerb konkurrierenden Gruppen praktisch permanent um das Wohlwollen des Wahlvolks werben und sie glauben nicht grundlos, dass es die gefälligen Angebote sind, die dort am besten ankommen. Man kennt das aus dem ganz normalen Leben. Für Zumutungen und Opfer findet sich nur selten Zustimmung, mögen sie auch noch so unabweisbar sein.

Anders ausgedrückt, eine Politik, die den Bürgern etwas abverlangt, und zwar auf lange Sicht, steht dem systembedingten Erfolgsstreben der Parteien wesenhaft entgegen. Dieser Sachverhalt erklärt, weshalb in ruhigen Zeiten dringende Reformen unterbleiben und Schulden angehäuft werden. Auf der supranationalen Ebene, der Ebene des organisierten Europa, multiplizieren sich die Probleme, die die nationalen Regierungen dadurch schaffen, dass sie ständig auf den Laufsteg müssen.

Genau das erleben wir zurzeit. In der Eurokrise entlädt sich die Summe aller Verfehlungen und Bequemlichkeiten der nationalen Politiken. Es ist ja nicht so, dass allein Griechenland betrogen hätte. Die Durchlöcherung des Stabilitätspaktes war ein Gemeinschaftswerk vieler Mitgliedsregierungen, die lieber Schulden machten als ihre Wiederwahl zu gefährden. Und weil sie sich dieses Hintertürchen für die Zukunft offen halten möchten, fällt es so schwer, auch jetzt, wo es bald zwölf schlägt, etwas so Einleuchtendes durchzusetzen wie die Goldene Regel der Schuldenbremse.

Auch auf eine zweite Schwäche des demokratischen Systems wirft die aktuelle Krise ein Schlaglicht. Die Demokratie schränkt die Handlungsfreiheit der Exekutive stark ein. Das ist so gewollt und hat – in Maßen - gute Gründe. In der EU, die eine leistungsstarke Exekutive überhaupt nicht kennt, weil sie aus schlechten Gründen nicht gewollt ist, muss jede Maßnahme mühsam ausverhandelt werden. Für das Bestehen einer globalen Herausforderung ist das eine miserable Voraussetzung.

Dabei ist der Entscheidungs- und Veränderungsbedarf riesengroß. Es geht um grundlegende Souveränitätsfragen, es geht um die Rettung der aus den Fugen geratenen Marktwirtschaft, es geht um Europa. Und letztlich geht es um die Demokratie. Denn Satz drei unseres politischen Katechismus lautet, dass kein Ordnungssystem so befähigt ist, sich selbst zu reformieren wie die Demokratie. Wird dieser Glaubenssatz erschüttert, ist die Krise der Demokratie tatsächlich da.

Dr. Günter Müchler studierte Politikwissenschaften, Neuere Geschichte und Zeitungswissenschaften. Er arbeitete als Redakteur der Günzburger Zeitung und der Deutschen Zeitung/Christ und Welt, später als Bonner Korrespondent der Augsburger Allgemeinen und der Kölnischen Rundschau (1974 – 1987).

Im Deutschlandfunk war er Leiter der Aktuellen Abteilung, Chefredakteur und Programmdirektor, zuletzt auch von Deutschlandradio Kultur (bis 2011). Buchveröffentlichungen: "CDU/CSU-Das schwierige Bündnis" (München 1976) und "Wie ein treuer Spiegel. Die Geschichte der Cotta’schen Allgemeinen Zeitung" (Darmstadt 1998).
Günter Müchler
Günter Müchler© Deutschlandradio - Bettina Fürst-Fastré