Der Komponist Alexander Skrjabin

Revolutionär einer neuen Tonalität

Von Stefan Zednik |
Der Russe Alexander Skrjabin gilt als absoluter Exzentriker in der Welt der Klaviermusik. Seine Werke zählen nicht nur zu dem pianistisch anspruchsvollen, sie begeistern auch heute noch durch ihre Emotionalität, ihre Radikalität, ihre Wucht. Er starb heute vor hundert Jahren an einer Blutvergiftung.
"Manche Analytiker behaupten, Skrjabins Jugendwerk verrate mit seinen schmachtenden Kantilenen den Einfluss Chopins. Das mag ja sein, aber ist es dem edlen Frédéric auch nur ein einziges Mal gelungen, eine groß angelegte Form mit solchem Elan zu meistern, wie ihn Skrjabin in dieser Sonate zeigt?"
So der kanadische Pianist Glenn Gould, bekennender Chopin-Verächter und Skrjabin-Bewunderer, über dessen Sonate Nr. 3. Tatsächlich verehrt der junge Alexander Skrjabin, 1872 in Moskau geboren, zeitlebens den polnischen Pianisten, legt als Kind dessen Noten nachts unter das Kopfkissen.
Alexander wächst ohne den im diplomatischen Dienst ins Ausland verpflichteten Vater auf, die Mutter stirbt früh und der Junge kommt in die Obhut von Tante, Großtante und Großmutter. Ausschließlich von Frauen geliebt und umsorgt zu werden - eine prägende Erfahrung für den reizbaren und hypersensiblen Jungen.
"Einmal beunruhige ich mich, ein andermal bin ich auf der Höhe der Seligkeit, in Minuten falle ich in Schwermut."
Phobien, Hypochondrie, Wankelmut, Trunksucht, ein neurotischer Zwang, sich nach jeder flüchtigen Berührung die Hände waschen zu müssen – die Liste der psychopathologischen Befunde bei ihm ist lang. Das Pendant: eine narzisstische Ich-Zentriertheit, das Gefühl unbegrenzter Liebes- und Leistungsfähigkeit.
Erzeugung von Leidenschaften, in der das "Ich" zergeht
"Ich bin ein Nichts, ein Spiel, bin Freiheit, bin das Leben. Ich bin eine Grenze, ein Gipfel. Ich bin Gott."
Musikalisch hochbegabt, entwickelt er früh zu seinem Instrument, dem Klavier, eine leidenschaftliche, beinahe körperliche Beziehung. Als Student am Moskauer Konservatorium erhält Skrjabin zudem Unterricht in Komposition, mit zwanzig veröffentlicht er seine ersten Stücke für Klavier.
Es ist der Übergang in ein neues Jahrhundert, der auch das Denken und die Musik Skrjabins prägt. Es herrscht Aufbruchseuphorie mit gewaltigen wirtschaftlichen Wachstumsraten und explodierenden Städten, mit dem Aufkommen der "sozialen Frage" und entsprechenden revolutionären Antworten. Jugendbewegung, Anthroposophie, Sozialismus und Anarchismus, aber auch Nationalismus und Militarismus - ein Schmelztiegel unterschiedlichster Strömungen, dem sich der intellektuell wache und interessierte Skrjabin nicht verschließt. Sein künstlerischer Durchbruch gelingt dem zunächst durch Klavierkompositionen bekannt gewordenen, der zu Beginn des neuen Jahrhunderts vorwiegend in Westeuropa lebt, mit einem gewaltigen Orchesterwerk.
"'Poème de l’extase' … Es war wie ein Eisbad. Kokain und Regenbögen. Wochenlang ging ich umher wie in Trance", so beschreibt der amerikanische Autor Henry Miller das Erlebnis von Skrjabins bekanntestem Werk. Der Komponist scheint genau das mit seiner Musik gewollt zu haben, die Erzeugung von Leidenschaften, in der das "Ich" zergeht. Leonid Sabanejew, Zeitgenosse, Freund und Biograf Skrjabins:
"Die schreckliche, extreme Erotik Skrjabins, die seine Werke überflutete, sich in seinem Spiel äußerte, in diesen wollüstigen, verfeinert sinnlichen Berührungen der Klänge, in diesen seltsamen und unsagbaren Träumen von letzten Liebkosungen im Mysterium. All dies zeigte, dass man in seiner Person einen psychischen Typ von starkem sexuellen Ausdruck hatte."
Alexander Skrjabin, der unorthodoxe Romantiker und Revolutionär einer neuen Tonalität war seiner Zeit meist weit voraus. Für das Stück "4’33" von John Cage aus dem Jahr 1952 - ein Pianist setzt sich ans Klavier, öffnet den Deckel und macht 4 Minuten und 33 Sekunden lang nichts - schien Skrjabin bereits den Entwurf geliefert zu haben, wenn er schrieb:
"Schweigen ist auch Klang. Ich denke, es sind sogar musikalische Werke möglich, die aus Schweigen bestehen."
Der Prophet und Fantast, der sich mit dem Göttlichen in enger Verbindung sah, starb am 27. April 1915 nur 43-jährig an einer Blutvergiftung, verursacht durch einen Pickel.
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