Der Skandal geht weiter
Zu Christian Wulff und seiner Verantwortung ist alles gesagt. Eine Debatte über die Verantwortung der Medien muss allerdings weit über den Fall Wulff hinaus geführt werden, meint Michael Götschenberg.
"Ja, aber", das ist überwiegend der Tenor der Kommentare zum Freispruch für Christian Wulff. Nicht die juristische Relevanz der Vorwürfe, die in den Wochen der Affäre Wulff gegen den Bundespräsidenten erhoben wurden, sei entscheidend für die Beurteilung von Wulff, sondern Stilfragen und moralische Fragen.
Dagegen ist zunächst einmal nichts einzuwenden. Moralische und Stilfragen stellen sich jedoch auch mit Blick auf die Medien. Zunächst gab es zweifellos etwas zu entdecken. Das journalistische Interesse an Wulffs Hausfinanzierung war berechtigt, und der Bundespräsident hat es noch geschürt, indem er den Eindruck erweckt hat, verschleiern und nicht aufklären zu wollen. Die Medien haben ihre Verantwortung wahrgenommen, zu recherchieren, aufzuklären, einzuordnen und zu bewerten.
Tricksender, betrügender und peinlicher Schnäppchenjäger
Spätestens aber als klar wurde, dass Wulff nicht zurücktreten würde, vermischte sich die journalistische Recherche zunehmend mit der Diskreditierung der Person. Mit nicht nachlassender Akribie wurde Wulff als tricksender, betrügender und peinlicher Schnäppchenjäger im Bellevue diffamiert. Dabei wurde ein Phantombild erzeugt, das der Mann vermutlich nie wieder los wird.
Die absurdesten Anfragen erreichten das Präsidialamt, um dieses Bild zu zementieren: So zum Beispiel ob zutreffend sei, dass Wulff als Schüler seine Mitschüler mit After Eight bestochen habe, damit sie ihn zum Schülersprecher wählen. Schließlich wurde sogar zum Skandal, dass Wulff sich vier statt drei Lieder zum Zapfenstreich gewünscht hatte.
Die Skandalisierung von Wulff verlor mit der Zeit jedes Maß, und gipfelte schließlich in einem medialen Vernichtungsfeldzug, der seinesgleichen sucht. Ein Einzelfall? Nur in der Intensität.
Tatsächlich gibt es wenig Anlass, dass der Fall Wulff dazu führen könnte, die unaufhaltsam um sich greifende mediale Skandalisierungswut in Frage zu stellen. Im Gegenteil. Der Medienwissenschaftler Bernd Pörksen hat den Skandal einmal als Schrei der Medien nach Aufmerksamkeit bezeichnet. In Zeiten wachsenden ökonomischen Drucks auf die Medien, wird dieser Schrei nur noch lauter und schriller werden.
Die Motivation bereitet Sorge
Tatsächlich rüstet die Medienlandschaft auf. Der Aufbau von "Investigativredaktionen" wird zur Zeit verschiedentlich vorangetrieben. Nicht, dass es an investigativer Recherche etwas auszusetzen gäbe - im Gegenteil. Sie gehört zum journalistischen Kerngeschäft. Was Sorge bereitet, ist die Motivation. Sie ist nämlich nicht nur eine journalistische, sondern nicht zuletzt auch eine ökonomische. Exklusivmeldungen zu produzieren, mit denen man in anderen Medien zitiert wird, ist ein entscheidender Wettbewerbsfaktor im Überlebenskampf in der Medienbranche. Die Skandalisierung von Banalitäten ist deshalb vorprogrammiert. Das wiederum geht Hand in Hand mit den Auswüchsen einer sich immer schneller drehenden Medienwelt, in der die Halbwertszeit einer Schlagzeile nicht mehr in Tagen sondern nur noch in wenigen Stunden gemessen wird, und in der die journalistische Sorgfaltspflicht tagtäglich mit Füßen getreten wird.
Jüngst zu beobachten am Fall Edathy. Als die Regionalpostille "Die Harke" über die Durchsuchung von Edathys Wohnung und die Kinderporno-Vorwürfe gegen ihn berichtete, wurde dieser schwerwiegende Vorwurf von zahlreichen Medien wie selbstverständlich verbreitet und nach wenigen Stunden präsentiert wie eine Tatsache. Und das lange bevor die Ermittler dies auch nur ansatzweise bestätigt hatten. Alle verweisen ständig aufeinander, was die Überprüfung des Wahrheitsgehalts von dem, was man verbreitet, offenbar überflüssig macht. Nach dem Motto: Was nicht sofort dementiert wird, wird schon stimmen.
Kritische Debatte über medialen Jagdeifer
Im Fall von Sebastian Edathy handelte es sich immerhin um einen der schlimmsten Vorwürfe, den man gegen einen Menschen überhaupt erheben kann. Es ist erschütternd, mit welcher Selbstverständlichkeit der mediale Skandalisierungseifer auch vor der Vernichtung einer Existenz nicht Halt macht. Das ist die Schnittmenge zwischen dem Fall Edathy und der Affäre Wulff. Einer kritischen Debatte über den medialen Jagdeifer steht dabei eine weit verbreitete Selbstgerechtigkeit in der Branche im Wege. Gerne wird mit dem Finger auf die Konkurrenz gezeigt, wohingegen man selbst sich nichts vorzuwerfen habe.
An der maßlosen Skandalisierung von Wulff haben sich nahezu alle beteiligt, wenn auch in unterschiedlicher Intensität und aus unterschiedlicher Motivation. Zu Christian Wulff und seiner Verantwortung ist alles gesagt. Eine Debatte über die Verantwortung der Medien muss weit über den Fall Wulff hinaus geführt werden.