Wie die USA anderen Kulturen Therapien aufdrängen
Die USA haben nicht nur Burger und Coca Cola globalisiert, sondern auch ihre Vorstellungen von psychischen Erkrankungen und den richtigen Therapien. Seine Landsleute nähmen keine Rücksicht darauf, wie andere Kulturen mit Traumatisierung und Depression umgingen, kritisiert der Journalist Ethan Watters.
Depressionen in Japan, Posttraumatische Belastungsstörungen auf Sri Lanka, Magersucht in China - in den letzten Jahrzehnten haben die Amerikaner die ganze Welt mit ihren Rezepten zur Behandlung von psychischen Erkrankungen überschwemmt. Und dabei die restliche Welt mit ihrer therapeutischen Mission erst recht verrückt gemacht. Das beschreibt der auf psychologische Themen spezialisierte Journalist Ethan Watters in seinem Buch "Crazy Like Us - Die Globalisierung der US-amerikanischen Psyche".
Die Hybris der Amerikaner
Der in San Francisco lebende Autor, der derzeit auf Vortragsreise in Berlin ist, krititisiert den Versuch von US-amerikanischen Therapeuten und Pharmakonzernen, in anderen Ländern ihr eigenes, vorgeblich zeitgemäßes und modernes Konzept für die Therapie von psychischen Störungen durchzusetzen. Es sei "Hybris zu glauben, wir müssten das den anderen Kulturen beibringen", statt sensibel auf deren eigene Vorstellungen einzugehen. Diese Hybris habe bereits dazu geführt, althergebrachte kulturell bedingte Vorstellungen von "Verrücktheit" durch westliche Vorstellungen zu ersetzen. Ein Beispiel sei der Tsunami und seine Folgen für die Menschen in Sri Lanka:
"In Sri Lanka zum Beispiel geht man anders an Traumabewältigung heran. Erstens sieht man Symptome beispielsweise ausgeprägt in Muskelschmerzen, in Bauschschmerzen. Man wird also am Körper arbeiten, die körperlichenb Symptome beseitigen. Zweitens sieht man in Sri Lanka derartige Störungen nicht als therapierbar durch individuelle Zuwendung, sondern dadurch, dass man sich an das gesamt Umfeld wendet. Man sieht die Störung als Unterbrechung von gesellschaftlichen Ritualen."
Plötzlich dachten viele Japaner, sie seien krank
In einem anderen Beispiel geht Watters auf den Pharmakonzern GlaxoSmithKline ein, der Anfang der 2000er-Jahre Psychopharmaka in Japan beworben und in den Handel gebracht habe.
"Sie haben ganz entscheidend die pathologische Einschätzung der Depression verändert. Während vorher Trauer in Religion, in Kultur, in Erzählungen und Musik durchaus einen wertvollen Rang hatte, wurde es jetzt ins Pathologische gedrängt. Und nach dieser Kampagne wurde Depression viel häufiger festgestellt - viele glaubten, sie seien erkrankt. Wir beobachteten also ein unglaubliche Zunahme dieser Fälle."
Das Interview im Wortlaut:
Korbinian Frenzel: Amerika exportiert so manches in die Welt, schicke Telefone, McDonald’s, Popkultur in den verschiedensten Facetten. Böse Geister würden vielleicht ergänzen: Kapitalismus oder sogar Krieg. Wie dem auch sei, das Gesicht der Globalisierung, es trägt viele amerikanische Züge. Aber wenn ich Ihnen jetzt sagen würde, Amerika exportiert auch seine Krankheiten, die psychischen Krankheiten, die Vorstellung davon, was eine solche ist und wie sie therapiert werden muss, dann fordern Sie zu Recht eine Erklärung. Und die kann ich Ihnen liefern, gemeinsam mit Ethan Watters. Der amerikanische Wissenschaftsjournalist und Autor war bei uns zu Gast mit seinem neuen Buch "Crazy Like Us. Wie Amerika den Rest der Welt verrückt macht". Und damit hat er mir meine erste Frage quasi auf die Zunge gelegt: Wie macht Amerika den Rest der Welt verrückt?
Ethan Watters: Dass wir Amerikaner unsere Auffassung von Krankheiten, insbesondere von psychischen Krankheiten nach außen tragen, ist bekannt. Aber darüber hinaus prägen wir auch die Art und Weise, wie derartige Krankheiten kulturell wahrgenommen werden, weil sie eben kulturell vorgeprägt sind.
Vier Beispiele: Die Depression in Japan, die posttraumatische Belastungsstörung, die Auffassung der Schizophrenie und die Magersucht in China sind ganz entscheidend durch uns beeinflusst. Durch Fachkräfte, durch klinische Forschungen haben wir nicht nur die Behandlung, sondern auch die Ausprägung und Erscheinungsbilder dieser Krankheiten, ja sogar ihrer Popularität beeinflusst.
Frenzel: Auf diese Beispiele würde ich gleich gerne eingehen, aber erst noch mal zu Ihrer Grundeinnahme! Nehmen wir Brustkrebs als Beispiel, der ist medizinisch betrachtet derselbe, egal ob bei einer Amerikanerin, einer Europäerin, einer Asiatin. Bei psychischen Krankheiten, sagen Sie, ist das anders, je nachdem, wo man lebt, in welchem sozialen, in welchem kulturellen Umfeld, das ist also Ihre zentrale These?
Watters: Das ist eine Grundauffassung. Das zeigt sich ja auch in der Geschichte von Störungen, zum Beispiel die Hysterie im späten 19. Jahrhundert: Klar umrissenes Erscheinungsbild sowohl bei Therapeuten wie auch bei Patienten, das kam und ging innerhalb weniger Generationen. Dasselbe Kommen und Gehen sehen wir bei Bulimie, bei Anorexie, bei Angststörungen, bei Depressionen.
Kulturelle Vorprägungen
Diese Symptome sind klar kulturell mittels vorgeprägt. Sie können auch von einer Kultur zur anderen wandern, zum Beispiel sind Depressionen von den USA mit in Japan geprägt worden. Jedoch will ich hiermit nicht sagen, dass die Symptome weniger real seien. Das alles wird nicht vorgespielt. Ich sage nur, wir werden ein volles Verständnis dieser Störungen nur bekommen, wenn wir auch die kulturelle Vorprägung mit berücksichtigen.
Frenzel: Das heißt also, es wäre falsch zu sagen, posttraumatische Belastungsstörungen, Magersucht, Depression, das sind amerikanische Krankheiten?
Watters: Es wäre falsch, das als spezifisch amerikanische Störungen zu betrachten. Jedoch hat die Ausbreitung, die Zunahme dieser Störungen und die Konzentration auf derartige Krankheitsbilder in Amerika stattgefunden und ist von dorthin dann an andere Orte getragen worden. Im Buch erwähne ich das Beispiel der posttraumatischen Belastungsstörung im Gefolge der Tsunamis im Indischen Ozean, da sind amerikanische Therapeuten in jene Länder gegangen und haben die Fachkräfte dort geschult, derartiges zu erkennen und zu behandeln.
Typisch amerikanisch
Das ist eine typisch amerikanische Idee. Andere Kulturen haben andere Auffassungen zur Behandlung von traumatischen Störungen, ich halte es für Hybris, für überheblich, wenn wir glaubten, wir müssen das den anderen Kulturen beibringen. Andere Kulturen haben ihre eigene Art, auf solche traumatischen Ereignisse zu reagieren und sie zu heilen.
Frenzel: Haben Sie Beispiele dafür, für diese anderen Wege, psychische Krankheiten zu behandeln?
Watters: In Sri Lanka zum Beispiel geht man anders an Traumabewältigung heran. Erstens sieht man Symptome beispielsweise ausgeprägt in Muskelschmerzen, in Bauchschmerzen, man wird also dann am Körper arbeiten, die körperlichen Symptome beseitigen. Zweitens sieht man in Sri Lanka derartige Störungen nicht als therapierbar durch individuelle Zuwendung, sondern dadurch, dass man sich an das gesamte Umfeld wendet. Man sieht die Störung als Unterbrechung von gesellschaftlichen Ritualen und man konzentriert sich dann darauf, eben diesen Zusammenhang wiederherzustellen.
Nun sehen wir häufig, dass nach kurzer Zeit nach solchen Unglücksfällen amerikanische Berater einreisen und dann ohne Sprachkenntnisse, ohne Kenntnisse der lokalen Religionen unsere Therapieformen aufnötigen wollen, statt sich auseinanderzusetzen mit den traditionellen Trauerritualen etwa und darauf einzugehen, was vorhanden ist. Im besten Falle ist es also eine vergeudete Liebesmüh, schlimmstenfalls aber ist es eine Störung, eine Komplizierung all dessen, was dort vor Ort schon vorhanden ist in der Bewältigung traumatischer Ereignisse.
Frenzel: Sri Lanka ist ein Beispiel, wo man sich vorstellen kann, ja, es sind wirklich sehr andere Lebensumstände. Sie waren auch in Japan und haben da gesehen, wie Depression um sich greift. Japan ist nun ein Land, das natürlich kulturell anders ist, aber zum Beispiel ja im Sinne Amerikas auch ein sehr wohlhabendes, reiches Land. Und trotzdem passt es nicht zusammen?
Den Blick auf die Depression verändert
Watters: In Japan drehte es sich im Wesentlichen um eine veränderte Herangehensweise an die Depression. GlaxoSmithKline das eigene Medikament Seroxat nach Japan gebracht und sie haben ganz entscheidend die pathologische Einschätzung der Depression verändert. Während vorher Trauer in Religion, in Kultur, in Erzählungen und Musik durchaus einen wertvollen Rang hatte, wurde es jetzt ins Pathologische gedrängt. Und nach dieser Kampagne wurde Depression viel häufiger festgestellt, viele glaubten, sie seien im krankhaften Sinne an Depression erkrankt. Wir beobachteten also eine unglaubliche Zunahme dieser Fälle.
Frenzel: Was ist die Konsequenz aus all Ihren Beobachtungen? Fordern Sie kulturspezifische Behandlungen von psychischen Krankheiten?
Watters: Darauf kann es kein klares Ja oder Nein geben. Sicherlich schwingen auch ökonomische Interessen mit, GlaxoSmithKline wollte Geld damit verdienen. Andererseits gab es in Japan vor 1980 eine unglaublich hohe Suizidquote, vor 1980 wurde Selbstmord nicht mit Depression in Verbindung gesetzt, nach dieser Kampagne haben wir gesehen, dass die Suizidneigung nicht zugenommen hat, teilweise zurückgegangen ist. Insofern war es durchaus von Erfolg gekennzeichnet.
Wir müssen aber auch anerkennen, dass die Bewältigungsformen anderer Kulturen sehr viel Bedeutung haben, dass sie uns helfen, uns selbst auch besser zu verstehen, und wir nicht einfach unsere Auffassungen überstülpen dürfen. Die Globalisierung als solche ist nicht aufzuhalten, es ist aber schon beachtlich zu sehen, wie starken Einfluss wir auf andere Kulturen ausüben, sehr häufig zu unserem eigenen Nachteil.
Frenzel: Ethan Watters, thank you very much for your time, vielen Dank, dass Sie hier waren!
Watters: Thank you for having me!
Frenzel: "Crazy like us", Ethan Watters hat dieses Buch geschrieben, über das wir gesprochen haben.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.