J. M. Coetzee: "Der Tod Jesu"
Aus dem Englischen von Reinhild Böhnke
Verlag S. Fischer, Frankfurt/Main 2020
221 Seiten, 24 Euro
Jesus-Parabel als Konflikt zwischen Vernunft und Leidenschaft
06:13 Minuten
Mit "Der Tod Jesu" beschließt J.M. Coetzee seine Jesustrilogie. Nach dem Tod des Waisen- und Adoptivkindes David streiten dessen Jünger über den Kern seiner Botschaft. Die Kritikerin findet das Projekt des Nobelpreisträgers "seltsam steifleinen".
Mit dem Roman "Der Tod Jesu" hat der südafrikanische Nobelpreisträger und zweimalige Booker-Preis-Gewinner J. M. Coetzee seine Jesus-Trilogie abgeschlossen, die 2013 mit "Die Kindheit Jesu" begann und 2016 mit "Die Schulzeit Jesu" fortgesetzt wurde. Alle drei Bände sind täuschend leicht zu lesen, denn sie sind in einer nüchternen, direkten, schmuck- und metaphernlosen Sprache in der Gegenwartsform erzählt.
Seltsamstes Romanprojekt der Zehnerjahre
Zugleich ist diese Trilogie eines der seltsamsten Roman-Projekte der Zehnerjahre, ein höchst vertracktes und schwer deutbares literarisches Artefakt, das die Kritiker weltweit seit Jahren ins Rätselraten stürzt über die Absichten des Autors und den Sinn des Ganzen. Die Jesus-Trilogie gilt der Form nach mal als Parabel, mal als Allegorie, mal als Pseudo-Allegorie. Womit haben wir es hier zu tun, fragen die Kritiker: Mit einer Art Anti-Bibel? Einer bizarren Studie des Absurden? Einem philosophischen Thesenroman? Oder mit dem spekulativen Versuch, einen Jesus für eine post-christliche Welt zu entwerfen? Die Deutungsangebote der Kritiker sind abenteuerlich und weit gestreut. Ein genervter Kritiker des "Guardian", dem auch ein Literaturnobelpreis keinen Respekt abnötigt, nennt Coetzees Jesus-Saga gar abschätzig einen "aufwändigen Witz des Autors auf Kosten des Lesers".
Elternloser Flüchtlingsjunge als Jesus-Figur
Alle drei Bände lassen sich zeitlich und örtlich nicht festmachen. Sie spielen in einem namenlosen spanisch-sprachigen Land und erzählen von einem eigentümlichen Erziehungsprojekt einer seltsamen Patchwork-Familie. Ein Pseudo-Elternpaar – ein selbsternannter Pflegevater namens Simón, ein Migrant von irgendwo, und eine Adoptivmutter namens Inés – wird zusammengehalten durch ein gemeinsames Projekt: einen elternlosen kleinen Flüchtlingsjungen namens David in ihre Obhut zu nehmen und ihn zu erziehen.
In "Die Kindheit Jesu" ist David fünf Jahre alt – ein außergewöhnliches, hochbegabtes, aber auch schwer erziehbares Kind. David ist wild, impulsiv, störrisch und altklug und lässt sich nicht einschulen. Im zweiten Band "Die Schulzeit Jesu" ist er sechs Jahre alt und besucht eine mysteriöse Tanzschule, in der er in eine esoterische Geheimlehre aus Tanz, Zahlenmystik und Astrologie eingeweiht wird und sich mit einer Dostojewskij-haften Figur namens Dmitri, einem Mörder aus Leidenschaft, anfreundet.
Tod durch mysteriöse Nervenkrankheit
Und nun, im Abschlussband "Der Tod Jesu", ist David zehn Jahre alt. Er verleugnet seine Adoptiveltern und erklärt sich zum Waisenkind. Als talentierter Fußballer fällt er dem sinistren Direktor eines Waisenhauses auf, der ihn mit der Aussicht auf professionelles Fußball-Training in sein Internat lockt. Dort wird David binnen kurzem von einer mysteriösen Nervenkrankheit befallen. Er kann bald nicht mehr laufen und kommt ins Krankenhaus. Dort schart er Freunde und Anhänger um sein Krankenbett, darunter auch den inzwischen amnestierten Mörder Dmitri, der sich als Davids treuester Jünger entpuppt, und erzählt ihnen von den Taten des Don Quijote – eine Kinderversion des Cervantes-Romans ist das einzige Buch, das er je gelesen hat.
Als David seinen Tod nahen fühlt, führt er mit seinem Pflegevater Simón eine Art platonischen Dialog über das künftige Leben im Jenseits. Nach seinem Tod entbrennt unter seinen Jüngern ein Streit über die "Botschaft", die David angeblich verkündet hat, "das Wort, das feurige Wort, das offenbaren wird, warum wir hier sind", wie Dmitri sagt. Zu Davids Ehren veranstalten die Jünger eine Gedenkfeier, in der die Worte und Taten Davids szenisch dargestellt werden, um seine Botschaft zu offenbaren, die aber dunkel bleibt.
Wie die beiden Vorgängerbände strotzt auch "Der Tod Jesu" von biblischen Anspielungen. Man könnte den Pflegevater Simón als eine Mischung aus dem Ziehvater Joseph und dem Apostel Simon Petrus deuten und in dem geläuterten Missetäter Dmitri eine Art Paulus-Figur sehen, den Verkünder einer neuen David-Religion. Und Davids erfundene Quijote-Erzählungen am Krankenbett haben eindeutig den rhetorischen Gestus der biblischen Gleichnisse Jesu, sind allerdings weniger unmittelbar einleuchtend als jene.
Kernthema Coetzees: Parabel über Verstand und Gefühl
Zugleich lässt sich die ganze Trilogie als ein Thesenroman lesen, als philosophische Parabel über den Streit um zwei Wege zur Welterkenntnis: über den Verstand oder über das Gefühl, über den Kopf oder über das Herz. Dies ist schließlich eines der Kernthemen in Coetzees Gesamt-Œuvre. In allen drei Bänden geht es modellhaft um den philosophischen Konflikt zwischen Vernunft und Leidenschaft, personifiziert in Simón, dem rein vernunftgesteuerten Rationalisten, und seiner Antithese Dmitri, dem passionierten Gefühlsterroristen, impulsiv bis zum Mord im Affekt oder bis zur selbstlosen Hingabe an seinen Messias David. David seinerseits wehrt sich gegen Simóns faktenbasierte kalte Vernünftigkeit und fühlt sich zu allem hingezogen, was dem Vernunftmenschen Simón fehlt: Sinnlichkeit, Leidenschaft, Phantasie.
Wie die meisten Werke Coetzees widerhallt auch die Jesus-Trilogie von literarischen Echos der Weltliteratur. Hießen früher die kanonischen Schutzheiligen Kafka oder Robinson Crusoe, sind es hier Dostojewskij, Platon und Cervantes. Im Ganzen liest sich die Jesus-Trilogie seltsam steifleinen. Der Erzählgestus versprüht die knöcherne Trockenheit von Allegorien. Alles klingt papieren, ausgedacht und erfahrungsarm. Gegen Ende häufen sich die Andeutungen, dass sich bei Davids Jüngern die Hoffnung auf seine Wiederkunft verfestigt. Nicht auszuschließen, dass Coetzee einen vierten Band seiner Jesus-Saga plant.