Literarische Reportage

In allen Farben schillernde Wirklichkeit

Argentinien: Ein Grab auf dem Wüstenfriedhof im Flusstal Quebrada de las Flechas
Argentinien: Ein Grab auf dem Wüstenfriedhof im Flusstal Quebrada de las Flechas © picture-alliance / dpa
Von Katharina Döbler |
Die argentinische Autorin Leila Guerriero zählt zu den lateinamerikanischen "cronistas" – Autoren eines speziellen Genres der literarischen Reportage. Ihre sprachliche Virtuosität ist umwerfend. Die Stimmen ihrer Protagonisten klingen im Leser noch lange nach.
Langsam werden sie auch in Europa bekannt: die lateinamerikanischen "cronistas", Autoren eines speziellen Genres der literarischen Reportage. Eine der bekanntesten unter ihnen ist die Argentinierin Leila Guerriero. Ihr "cronicas" erscheinen in zahlreichen spanischsprachigen Magazinen und Zeitschriften.
Für die Kulturbeilage der wichtigsten spanischen Tageszeitung El País schrieb Guerriero ein erfrischend unfrommes Porträt des peruanischen Literaturnobelpreisträgers Mario Vargas Llosa, und im Magazin derselben Zeitung wurde 2008 erstmals ihre inzwischen bekannteste Reportage abgedruckt: "Die Stimme der Knochen".
Sie erzählt von einem Team junger Anthropologen, die 1984 ohne offiziellen Auftrag unter Anleitung eines Forensikers aus den USA anfingen, menschliche Überreste aus den anonymen Massengräbern der Militärdiktatur zu bergen und zu identifizieren. So wurde das Schicksal der vielen Tausend "Verschwundener" zumindest teilweise aufgeklärt.
Zweifacher Anspruch, literarisch und wahrhaftig zu sein
Inzwischen ist die Gruppe zu einer international anerkannten und gefragten Institution geworden. Leila Guerriero aber erzählt eine Geschichte von Individuen, solchen wie der Frau, die als Studentin "an Wochenenden (...) unter den Augen der Angehörigen die noch frischen Schlünde jüngerer Gräber" auszuheben begann und noch nach Jahrzehnten ohne jeden Zynismus, geradezu pietätvoll, von der Schönheit der Knochen spricht. Meistens sind es die Originalzitate der Protagonisten, die mitten ins Herz treffen und im Gedächtnis haften bleiben.
Am stärksten ist dieser Eindruck bei dem Porträt einer mutmaßlichen dreifachen Giftmörderin ("Drei traurige Tassen Tee"), das durch die konventionell-hysterische Konversation dieser Dame aus gehobenen Kreisen eine unglaubliche Schärfe gewinnt – zumal wenn man weiß, dass die Mordopfer ihre besten Freundinnen waren.
Diese beiden "Cronicas" sind die vielleicht extremsten im vorliegenden Band, aber nicht die besten. Die meisten anderen sind nämlich genauso gut. Alle erheben den zweifachen Anspruch, literarisch und wahrhaftig zu sein – und erfüllen ihn.
"Ich entdecke eine gewisse Schönheit darin, dass Dinge geschehen – absurde, widersprüchliche und manchmal irreale Dinge", schreibt Leila Guerriero in ihrem Vorwort, "und ich liebe es, die Wirklichkeit zu betreten wie einen Basar voller Gläser: Ich fasse kaum etwas an und verändere nichts." Aber sie setzt, und das mit Virtuosität, die Mittel des Stils und der Sprache ein, um eine in allen Farben schillernde Wirklichkeit mitsamt ihrem Elend, ihrer Güte, ihrer Härte den Lesern zu übermitteln. Das Ergebnis ist nicht nur überzeugend. Es ist passagenweise umwerfend.

Leila Guerriero: Strange Fruit
Aus dem Spanischen von Kirsten Brandt
Ullstein Verlag, Berlin 2014
265 Seiten, 19,99 Euro