Mesut Özil

Wie ein Höchstbegabter zum "Fremden" gemacht wurde

Mesut Özil beim deutschen WM-Spiel am 27. Juni 2018 in Kasan gegen Südkorea (0:2)
War das sein letztes Länderspiel für den DFB? Mesut Özil beim deutschen WM-Spiel am 27. Juni 2018 in Kasan gegen Südkorea (0:2). © dpa / picture alliance / augenklick/firo Sportphoto
Von René Aguigah |
Ist Mesut Özil das Opfer von Rassismus, ein nationalistischer Integrationsverweigerer oder eine globalisierte Marke, die sich von alten Fesseln löst? Unser Kollege René Aguigah geht seinem mulmigen Gefühl auf den Grund.
Eine Kindheit im nördlichen Ruhrgebiet, gegen Ende des 20. Jahrhunderts: rechtes Mittelfeld, technisch versiert, ein Typ für die Torvorlagen.
Es ist meine eigene Fußballkindheit, an die ich mich dieser Tage erinnere. Irgendwann in der A-Jugend hörte ich auf zu spielen. Und zwar weil meine katholisch deutschen Mitspieler die drei oder vier Türken in unserem Team mit fortschreitender Jugend immer hemmungsloser verächtlich machten – als stinkende "Muchel", so hieß das Wort. Ich konnte nicht umhin, mir vorzustellen, dass es mir jederzeit ähnlich gehen könnte. Denn auch ich sah anders aus als die Mehrheit. Meine Hautfarbe ist dunkel.

"Rassismuskarte" und "Rassismuskeule"

Das mulmige Gefühl aus der Umkleidekabine von damals hat sich sofort wieder eingestellt, als ich am Sonntagabend die Nachricht hörte, dass Mesut Özil nicht mehr für die deutsche Nationalmannschaft spielen will – wegen des, auf einen Begriff gebracht, Rassismus, den er in den vergangenen Monaten erlebt hat. Wenn ich dieses mulmige Gefühl erkalten lasse, um besser zu sehen, wie Mesut Özil tatsächlich behandelt worden ist, dann klammere ich den Begriff Rassismus hier für einen Moment ein. Und dies nur aus einem Grund, nämlich dem, dass zu viele Autorinnen und Autoren öffentlicher Äußerungen in der Özil-Affäre gar nicht mehr zuhören, wenn sie dem Wort "Rassismus" begegnen. Schlimmer noch: sie schlagen damit zurück, mit Wörtern wie "Rassismuskarte" oder "Rassismuskeule". Eine ehemalige Weinkönigin zum Beispiel, heute Bundesministerin, Julia Klöckner (CDU), fragt gestern, ob es nicht "Rassismus" sei, "reflexhaft die Kritik an der Diktatorunterstützung als deutschen Rassismus abzutun".

Man sollte Özil politisch kritisieren

Vielleicht hilft hier das amerikanische Wort "othering" weiter – unvollkommen übersetzt etwa: anders-machen, fremd-machen. Natürlich ist Mesut Özil in den vergangenen Monaten vielfältig zum "Anderen" gemacht worden, zum Fremden. Als Muslim, der zu Allah bete, anstatt die deutsche Hymne zu singen. Als Türke, dessen Besuch bei Präsident Erdoğan nicht etwa politisch zu kritisieren sei – und das sollte man in aller Härte tun –, sondern als Türke, dessen Präsidentenbesuch beweise, dass er, Özil, die sogenannten Werte des DFB, der Bundesrepublik oder gleich: ganz Europas nicht teile. Wer aber von Özils Schmähern wäre je auf die Idee gekommen, Angela Merkel, Jean-Claude Juncker oder dem Mercedes-Vorstand deshalb Verrat an den europäischen Werten vorzuwerfen? Sie alle machen auf offener Bühne Geschäfte mit eben diesem Erdoğan.

Produkt des hochtourigen Fußballkapitalismus

Eine Kindheit im nördlichen Ruhrgebiet, eine sportliche Höchstbegabung, die in den Fußballkäfigen von Gelsenkirchen-Bismarck begann, bevor sie zu Beginn des 21. Jahrhunderts erst auf Schalke und bei Werder Bremen, später bei Real Madrid und Arsenal London in der galaktischen oder zumindest: in der globalisierten Umlaufbahn ihr Niveau fand. Mit anderen Worten: In der Figur Mesut Özil kreuzen sich zwei Migrationsströme, die einander ansonsten selten begegnen. Özil ist zugleich das Kind von türkischen "Gastarbeitern" in Deutschland – und das Produkt des zeitgenössisch hochtourigen Fußballkapitalismus. Schon 2012 sagte er: "Fußball ist international, und das hat mit den Wurzeln der Familie nichts zu tun." Und jetzt kommuniziert er souverän, wie internationale Marken – sei es im Pop, in der Politik oder eben im Sport – heute kommunizieren: selbst gewählter Zeitpunkt, geglättetes Englisch, auf Facebook, Twitter, Instagram; und der hergebrachte Journalismus hat keine andere Wahl, als Özils internationaler Gefolgschaft von 70 Millionen Fans seinerseits zu folgen.

Spitzen-Fußballer sind globalisiert und divers

Migrantenkind und globalisierte Marke: in dieser doppelten Hybridität liegt der Grund dafür, dass mein mulmiges Gefühl von Sonntagabend inzwischen um eine Einsicht bereichert ist: Özil ist nicht einfach ein Opfer. Man muss das nicht zum Anlass nehmen, sozialdemokratisch gegen Fußballmillionäre zu polemisieren, wie Heiko Maas. Man könnte beginnen, besser zu verstehen, was Fußball-Nationalmannschaften heute sind. Für Spitzen-Fußballer sind sie eine Option. Als Repräsentanten verkörpern sie nichts Folkloristisches mehr. Sie sind globalisiert und divers, wie die Länder, für die sie antreten.

René Aguigah leitet die Abteilung "Hintergrund Kultur und Politik" bei Deutschlandfunk Kultur.






© Foto: Deutschlandradio - Bettina Straub
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