Orchestrales Beben

Von Holger Hettinger |
2003 übernahm der Dirigent Claudio Abbado die künstlerische Leitung des hochkarätigen Lucerne Festival Orchestras. Die Ergebnisse sind verblüffend: Jeder Ton, jede Phrase hat eine eigene Farbe, ein eigenes Parfum.
Es ist einer jener Momente, die man nicht so leicht vergisst: Wie der ausgezehrte, von Krankheit gezeichnete Claudio Abbado ans Pult des Lucerne Festival Orchestras tritt, langsam den Arm hebt – und wie er mit einer kleinen Bewegung der rechten Hand ein orchestrales Beben auslöst, wie er das nervöse Irrlichtern der ersten Takte von Mahlers 2. Sinfonie in den kathedralenartigen Raum wuchtet.

Wie man als Zuhörer auf seinem Stühlchen sitzt und den Kontrast zwischen dem hinfälligen, hageren Mann am Dirigentenpult und der schieren Gewalt der Musik kaum auszuhalten vermag. Und wie man dann zu schweben beginnt, wenn man nach einer Weile erkennt, dass all diese Kraft und Energie aus diesem gebrechlichen Mann herauskommt.

Abbado und Luzern – das ist die Geschichte einer ganz besonderen Beziehung. 2003, ein knappes Jahr nach seinem Abschied als Chefdirigent der Berliner Philharmoniker, hat Abbado die künstlerische Verantwortung für das Lucerne Festival Orchestra übernommen – nicht irgendein zusammengewürfeltes Festspielorchester, sondern ein – und hier passt der Begriff wirklich einmal richtig – ein "Klangkörper" aus Abbados musikalischen Mitverschwörern - Spitzenmusiker, die sich unter Abbados Dirigat lustvoll einlassen auf das kammermusikalische Prinzip des Aufeinander-Hörens.

Die Ergebnisse sind verblüffend. Jeder Ton, jede Phrase hat eine eigene Farbe, ein eigenes Parfum. Beethoven, Mahler und Bruckner gelingen am Vierwaldstätter See als ebenso unaufgeregte wie intensive Musik-Durchleuchtungen – die Luzerner Orchesterfamilie hat längst ein Gefühl für ihre künstlerische Zusammengehörigkeit entwickelt.

Dass das Luzerner Festival nicht nur künstlerisch erfolgreich ist, liegt an der üppigen finanziellen Ausstattung der Unternehmung. Anders als die großen Sommerfestivals hängt Luzern nicht am Tropf der öffentlichen Gelder – großzügige Spender machen's möglich. Dass das Festival dabei der Bussi-Bussi- und Eventkultur die kalte Schulter zeigt, ist einerseits staunenswert – andererseits aber auch ganz im Sinne der vielen reichen Spender und Förderer, für die Diskretion immer noch Ehrensache ist.